Gabriel oder das Versprechen
dass
gelänge, was Gott ihm befohlen.
38
Blumenstraße 9, Donnerstag, 28. Mai,
12.30 Uhr
»Ich will, dass du mich Gabriel
nennst! Hast du mich verstanden?« sagte er leise, aber mit
Nachdruck zu Miriam Marzahn, die ihm an dem kleinen Esstisch in der
Küche ihrer Wohnung - an Händen und Füßen gefesselt - gegenüber
saß.
Sie hatte Todesangst und nur zögernd
kamen ihr die Worte über die Lippen. »Ja, Gabriel!«
»Dann wollen wir jetzt mit unserem
Frage-Antwort-Spiel beginnen. Noch einmal hast du exakt neun
Minuten Zeit, mich näher kennen zu lernen. Vielleicht gewinne ich
ja auch deine Sympathie und du gibst mir am Ende ein ›Ja‹, so dass
wir in Kontakt bleiben können. Also beginnen wir.« Gabriel wirkte
total ruhig und entspannt. Als gehe er nur seiner Arbeit
nach.
Miriam war völlig verstört, zwischen
Hoffen und Bangen. Sie musste alles richtig machen, um die winzige
Chance zu nutzen, die sie noch zu haben glaubte. Stockend begann
sie zu fragen. Um ihn nicht wieder zu erzürnen, nannte sie gleich
seinen Namen.
»Gabriel«, sie atmete schwer,
während ihr die Tränen über die Wangen liefen, »was machst du … was
machst du so … in deiner Freizeit?«
»Ich lese sehr viel, vor allem in
der Bibel, fast jeden Abend und jeden Morgen.« Er lehnte sich ein
wenig zurück und schaute sie aufmunternd an.
»Auch noch andere Bücher, Gabriel?«
wieder gebrauchte sie ganz bewusst seinen Namen.
,Ja, Nietzsche und vor allem Freud.
Freud ist mein Freund«, ergänzte er kichernd.
»Gehst du zum Weib, vergiss die
Peitsche nicht«, schoss es ihr durch den Kopf. Obwohl sie
Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ nie gelesen hatte, war dieser
Satz bei ihr als Relikt aus dem Philosophierunterricht
hängengeblieben. Doch sie hütete sich, den Gedanken auszusprechen.
Zu sehr ähnelte dieses Bild der Zwangssituation, in der sie sich
befand. Ihrem Peiniger ausgeliefert. Schnell wechselte sie daher
das Thema. »Auch irgendwelche Romane?«
»Ja, vor allem historische. ›Die
Päpstin‹ zum Beispiel. Irre interessant. Oder über die römischen
Kaiser. Nero oder auch Caligula.« Er ereiferte sich und schwärmte
von deren Taten. Sie schien ein Thema angeschnitten zu haben, das
ihn von seinem eigentlichen Vorhaben ablenkte. Glaubte sie. Aber
ihre Hoffnung währte nicht lang. »Die Hälfte unserer Zeit ist
vorbei. Nun muss ich natürlich auch noch ein wenig von dir
erfahren. Sprich mal von dir! Was bist du so für ein Mensch? Was
meinst du, wie wirkst du auf andere? Bist du freundlich?
Liebenswürdig? Oder bist du arrogant? Egoistisch? Siehst du nur
dich und deinen Vorteil? Bist du sanft und gefühlvoll?« Dabei
strich er ihr mit seinen beiden Händen, über die er hellblaue
Haushaltshandschuhe aus Latex gezogen hatte, über ihre Wangen.
Eiskalt lief es ihr über den Rücken und sie spürte, wie sich ihre
Arme und Beine versteiften und sie eine Gänsehaut bekam. Er ließ
von ihr ab. »Liebst du die Menschen? Tust du ihnen gut?« fuhr er
mit seinen Fragen fort.
»Warum quälst du mich so?« ging sie
bewusst nicht auf seine Fragen ein. Ihre Tränen waren versiegt. Sie
hatte sich etwas besser im Griff. Aber die Todesangst blieb. »Du
bestimmst hier die Spielregeln und verlangst, dass ich sie
akzeptiere.« Sie hatte plötzlich wieder Mut geschöpft und hoffte,
ihn von seinem mörderischen Spiel abbringen zu können, indem sie
ihn provozierte. »Stark bist du nur, wenn du mit jemandem spielen
kannst, der wehrlos ist. Es ist das sadistische Spiel einer
bösartigen Katze, die mit einem gefangenen Mäuschen spielt. Ein
erbärmliches Schauspiel!« Sie sah, wie er die Schultern hängen ließ
und ein wenig in sich zusammensackte. So saß er eine ganze Weile.
Sie schwieg und hoffte, den richtigen Schlag gesetzt zu haben.
Würde er sein Vorhaben aufgeben? Hatte sie den richtigen Weg
gewählt, um ihn zur Umkehr zu bewegen?
*
Gedanken jagten durch Gabriels Kopf.
War er wirklich ein Sadist, dessen ganzes Vergnügen darin bestand,
die Wehrlosigkeit seines Gegenübers zu sehen? Seine Macht über
einen anderen Menschen zu spüren? Ging es ihm wirklich darum, diese
Frau zu quälen? Nein, er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Es war
nicht sein Wille zu töten, sondern es war die Mission, die er zu
erfüllen hatte. Sünde zu sühnen. Das Weib durch den Tod zu erlösen,
auf dass ihm vergeben werde …
Wie aus tiefer Trance erwacht, kam
er wieder zu sich. Er richtete sich auf. Seine Augen verformten
sich zu schmalen Schlitzen. Seine Stimme
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