Gabriel oder das Versprechen
ging zur Wohnungstür. Unmittelbar davor zog er seinen
aus weißer Gaze bestehenden Schutzanzug aus, der mit Blutspritzern
übersät war. Behutsam wickelte er ihn zusammen, ständig darauf
bedacht, in ihm befindliche Partikel oder Haare im Inneren des
Anzugs zu lassen. Er öffnete leise die Tür und vergewisserte sich,
dass niemand sich im Treppenhaus befand. Auf den oberen Stufen
streifte er die Duschhauben ab, die seinen Kopf und auch seine
Schuhe bedeckten. Auch sie verstaute er in seiner Tasche. Dann ging
er die Treppe hinunter. Niemand begegnete ihm. Er trat aus der
Haustür und atmete die frische Frühlingsluft tief in seine Lungen
ein. Er fühlte sich frei. Befreit von einer schweren
Last.
39
Blumenstraße 9, Donnerstag, 28. Mai,
15.07 Uhr
Am frühen Nachmittag, einige Minuten
nach drei, wurde die Leiche der Krankenschwester Miriam Marzahn in
ihrer Wohnung in der Blumenstraße entdeckt. In der
Landesfrauen-Klinik hatte die Oberschwester Brunhilde sich
gewundert, dass Miriam - sonst immer zuverlässig und pünktlich - um
zwei nicht zum Dienst erschienen war. Auch ihre Kollegin Tamara
Utz, mit der Miriam eng befreundet war, fand keine Erklärung.
Mehrere Versuche, Miriam telefonisch zu erreichen, blieben
erfolglos. Da Tamaras Schichtdienst um zwei zu Ende war, versprach
sie, ihre Freundin aufzusuchen und sich danach zu melden. Nachdem
niemand öffnete, schloss sie die Wohnungstür, zu der sie einen
Schlüssel besaß, voll böser Vorahnungen auf. Der Anblick war
schrecklich. Ihre Freundin lag - vollständig bekleidet - mit weit
aufgerissenen Augen auf ihrem Bett. Ihr Oberkörper war übersät mit
Einstichen. Überall Blut. Selbst auf der Tapete über dem Kopfende
waren Blutspritzer zu
sehen.
Tamara wollte schreien, aber kein
Laut kam über ihre Lippen. Sie stürzte hinaus ins Bad und übergab
sich. Sie brauchte eine gewisse Zeit, um zu sich zu kommen. Dann
griff sie zu ihrem Handy und wählte die Notrufnummer der
Polizei.
»Leitstelle der Polizei«, meldete
sich der diensthabende Beamte. »Was kann ich für Sie tun? Bitte
nennen Sie zunächst Ihren Namen!«
»Tamara Utz. Bitte kommen Sie
schnell. Blumenstraße 9. Meine Freundin wurde ermordet«, sagte sie
so leise, dass sie am anderen Ende der Leitung kaum zu verstehen
war.
»Blumenstraße 9? Habe ich das
richtig verstanden? Wie heißt Ihre Freundin?«
»Miriam Marzahn.« Noch bevor der
Polizist ihr weitere Anweisungen geben konnte, hatte sie das
Gespräch beendet.
40
Polizeipräsidium Wuppertal,
Donnerstag, 28. Mai, 15.32 Uhr
Direkt nach dem Telefonat
verständigte der Beamte der Leitstelle die Mordkommission.
Fassbinder war selbst am Apparat. Im ersten Moment war er
fassungslos, trommelte dann aber sofort seine Leute zusammen, legte
fest, wer mitkommen sollte, informierte den Polizeiarzt und gab der
Spurensicherung Bescheid.
Wieder ging es mit Blaulicht und
Martinshorn in Richtung Elberfeld. In Höhe der Stadthalle bogen sie
links ab in die Kölner Straße. Nur wenige Augenblicke später
hielten sie vor dem Mehrfamilienhaus in der Blumenstraße und
klingelten Sturm. Der Türsummer ertönte. Sie stürzten die Treppe
hinauf in den zweiten Stock. Tamara Utz saß zusammengekauert wie
ein Häufchen Elend in der Küche auf einem der beiden Stühle. Sie
wirkte völlig apathisch. Svea Großmann nahm sich ihrer an und Dr.
Brandt gab ihr eine Beruhigungsspritze. Im Schlafzimmer bot sich
erneut das Bild, das sie schon zweimal gesehen hatten. Der auf den
ersten Blick einzige Unterschied waren die Hämatome im Gesicht, so
als hätte der Täter dem Opfer vor der Ermordung Fausthiebe
versetzt. Ansonsten ein deckungsgleiches Bild. Auch die Zahl der
Einstiche war identisch. Es waren neun. Wieder war die
Herz-Dame-Spielkarte gelocht, dieses Mal jedoch im unteren linken
»D«. An den Hand- und Fußgelenken zeigten sich erneut die von einer
Fesselung stammenden Scheuerstellen. Selbst den älteren erfahrenen
Kollegen war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Nichts, was sie
bisher in ihrer langjährigen Praxis gesehen hatten, war
vergleichbar. Es herrschte Sprachlosigkeit. Kalte Wut ergriff sie alle. Ohne es auszusprechen,
schworen sie sich, den Täter zur Strecke zu bringen. Und Fassbinder
wusste, sie würden ihn kriegen, diesen bestialischen
Killer!
41
Polizeipräsidium Wuppertal,
Donnerstag, 28. Mai, 19.15 Uhr
Etliche Mitarbeiter der ›SoKo
Gabriel‹ waren noch unterwegs gewesen, die meisten mit Befragungen
beschäftigt. Inzwischen
Weitere Kostenlose Bücher