Gabriel oder das Versprechen
war etwas zittrig, aber
gefährlich leise.
»So darf niemand mit Gabriel reden.
Schon gar nicht jemand, der andere immer nur seine Verachtung
spüren lässt. Der arrogant ist! Überheblich! Kalt! Egoistisch!« Sie
spürte, sie hatte verloren. Er würde nicht verschwinden, ohne sein
Werk zu vollenden. Und das hieß Tod. Nur ein Wunder konnte sie noch
retten.
Als er sie vom Stuhl losgebunden
hatte, um sie ins Schlafzimmer zu schleppen, unternahm sie einen
letzten verzweifelten Versuch. Den einzigen Ausweg, den sie sah,
war Flucht. Flucht aus diesem Martyrium. Sie musste ihren Peiniger
außer Gefecht setzen. Wenige Sekunden schon würden ihr genügen, um
die Wohnungstür zu erreichen und zu fliehen. Obwohl nach wie vor an
den Händen gefesselt, schlug sie ihm beide Fäuste ins Gesicht und
versuchte sein linkes Ohr zu packen. Doch ihre Absicht misslang.
Zwar war er für einen kurzen Augenblick irritiert, denn mit ihrem
Zeigefinger war sie an seinem Ohrstecker hängengeblieben. Voller
Wut schlug er mit beiden Fäusten zu. Sie taumelte und verlor die
Besinnung.
*
Der Körper Miriams lag seltsam
verdreht auf der Schwelle zwischen Flur und Schlafzimmer. Gabriel
stieg über sie hinweg, packte sie an den Handgelenken und zog sie
vollends ins Schlafzimmer. Dort legte er sie auf das Bett, ordnete
Rock und Bluse, die sich verschoben hatten, und vergewisserte sich,
ob sie noch lebte. Er legte seinen Kopf auf ihre linke Brust, um zu
hören, ob ihr Herz noch schlug. Sie lebte. Erleichtert atmete er
auf. Er konnte seine Mission erfüllen, wie sie ihm aufgetragen war.
Er ging in die Küche und ergriff die Tasche, die er mitgebracht
hatte. Vorsichtig entnahm er ihr das Faustmesser, die Lilie und die
rosafarbene Rose. Das Faustmesser legte er auf den Boden, die Rose
neben Miriams Kopf auf das Kissen. Die Lilie nahm er in seine
gefalteten Hände, kniete nieder und zitierte - bruchstückhaft und
scheinbar zusammenhanglos - Verse aus den Hoheliedern. »Wie eine
Lilie inmitten der Dornen«, begann er, verharrte einen Augenblick,
als seien die Worte ihm entfallen und fuhr dann fort, »deine beiden
Brüste sind wie ein Zwillingspaar junger Gazellen, die unter den
Lilien weiden. Bis der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen,
will ich zum Myrrhenberge hingehen und zum Weihrauchhügel. Ganz
schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir.« Während
er so sprach, waren seine Gesichtszüge entspannt, wie die eines
Liebenden, der neben seiner schlafenden Geliebten kniet und ihr
zärtliche Worte mit auf den Weg in ihre Träume senden will. Dann -
von einer Sekunde auf die nächste - versteinerte sich sein Blick.
Seine Augen verengten sich und er begann mit hasserfüllter Stimme
erneut eine Passage aus einem der Hohelieder zu zitieren. »Du hast
mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut; du hast mir das
Herz geraubt mit einem deiner Blicke …«
Genau in diesem Moment schlug Miriam
die Augen auf. Sie war starr vor Schreck. Sie sah Gabriel, wie er
sich mit verzerrtem Gesicht über sie beugte und ihr das Faustmesser
mit voller Wucht in ihre linke Brust stieß. Der Stoß war tödlich.
Sie nahm nicht mehr wahr, wie Gabriel ihr noch achtmal das Messer
in die Brüste rammte. Das Blut spritzte und tränkte das weiße
Laken. Er ließ von ihr ab. Seine Gesichtszüge, die noch eben einer
dämonenhaften Fratze geglichen hatten, entspannten sich. Als wäre
nichts geschehen, begab er sich daran, die Dinge zu tun, die noch
getan werden mussten. Wie ein Leichenbestatter, der seine Arbeit
verrichtet. Routiniert. Alltäglich. Er löste ihre Fesseln an den
Handgelenken, faltete ihre Hände, in die er wieder die Rose und die
Lilie steckte, wie er dies schon bei den Morden zuvor getan hatte.
Das Faustmesser packte er in eine mitgebrachte Plastiktüte und
verstaute es in seiner Tasche. Dann ging er ins Bad und wusch das
Blut von seinen Händen, ohne die Latexhandschuhe
auszuziehen.
Wieder im Schlafzimmer kniete er am
Fußende des Bettes erneut nieder. Er sprach ein kurzes Gebet. »Oh,
Herr, ich tat wie du mir befohlen hast. Ich flehe dich an: Nimm die
Schuld von mir, die auf meinen Schultern lastet. Erlöse mich, wie
du auch sie erlöst hast von ihrer Schuld. Oh, Herr, vergib mir.
Nimm mich auf in deiner unendlichen Güte. Lass mich teilhaben an
deiner Gnade!« Er stand auf, verweilte noch ein paar Augenblicke
und betrachtete sein Opfer. Es war ihm, als habe Miriam ihren
Seelenfrieden schon erlangt. Er drehte sich um, ergriff seine
Tasche und
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