Gabriel
Richtung. Es war eine spontane, völlig unlogische Entscheidung.
Am Ende des Flurs ließ sich eine schmale Tür öffnen. Ohne lange zu überlegen, eilte Juliette die Personaltreppe hinunter. Die Ausgangstür klemmte, von der feuchten Kälte verzogen, und sie musste sich dagegenstemmen. Dann betrat sie eine regennasse Gasse. In der windigen, stockdunklen Nacht klapperten ihr die Zähne.
Mittlerweile spürte sie ihre Muskeln und Knochen nicht mehr, und ihre Beine bewegten sich wie von selbst. Die Taubheit drang von innen nach außen. Sicher eine Nachwirkung des Chloroforms. Sie war ziemlich klein. Und der Angreifer musste das Tuch mit einer ganzen Menge von dem Zeug getränkt haben. Aber irgendwie kam es ihr anders vor. Chloroform glich einer Schlummerhülle, die einen äußerlich umfing, ehe sich der Effekt nach innen fortsetzte. Jetzt war es anders. Es war eine vertraute, tiefere Art von Schwäche. Aus ihren Knochen und Muskeln schienen alle Kräfte zu weichen. Es war nichts, was von außen auf sie eindrang und sie einschläferte. So war ihr zumute gewesen, nachdem sie die beiden todgeweihten Männer geheilt hatte.
Sie umrundete eine Ecke, lief blindlings die Straße entlang. Es kommt durch das Gewitter, dachte sie. Daran bin ich schuld. Auch an dem fließenden Koffer. Jetzt erinnerte sie sich an die Gegenstände im Hotelzimmer, von einem vermeintlichen Poltergeist bewegt. Nur dass es kein Geist war. Das alles hatte sie getan.
Lange halte ich nicht mehr durch. Bald würde sie die Besinnung verlieren. Sie konnte nur hoffen, sie würde sich vorher weit genug von der Gefahr entfernen. Nun bog sie wieder um eine Ecke und folgte einer anderen Straße. Vage überlegte sie, was gerade in ihrem Zimmer geschehen mochte. Nebelschwaden hingen über dem Kopfsteinpflaster und dämpften das Licht der Straßenlaternen. Plötzlich hatte sie den Eindruck, alle Welt hätte sich vor ihr zurückgezogen und sie allein gelassen, eine einsame Gestalt, die ziellos auf einem leeren Planeten umherrannte.
Viel zu laut schlugen ihre Stiefel auf das nasse Pflaster und unterstrichen die unheimliche Atmosphäre der düsteren Umgebung. Juliettes keuchende Atemzüge durchbrachen das gespenstische Schweigen. Sie umrundete eine weitere Ecke und rannte an einem halben Häuserblock vorbei. Dann blieb sie vor dem Schaufenster eines Ladens stehen, in dem Harris-Tweed verkauft wurde.
Sie bückte sich, um tief durchzuatmen. Heftige Schwindelgefühle zwangen sie in die Knie, die auf dem harten Gehsteig landeten. Doch sie spürte es kaum, ihre Beine waren fast gefühllos geworden.
Da erkannte sie, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Wohin sie gehen oder was sie tun sollte, wusste sie nicht, und ohnehin würde sie es nicht schaffen, wieder aufzustehen. Ihr Handy steckte nicht in der Jeanstasche, und sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Hinter allen Fenstern herrschte Dunkelheit.
Sie war ganz allein, niemand würde ihr helfen. Der Nebel ringsum verdichtete sich, und ihr Blickfeld verengte sich. Bald würde sie das Bewusstsein verlieren, auf diesem Gehsteig, auf dem sich keine Menschenseele zeigte.
8
Nachdem der Sternenengel aus dem Zimmer geflohen war, konzentrierte Gabriel sich wieder auf seinen Gegner. Jetzt entsann er sich, wie problematisch es war, einen der Adarianer zu bekämpfen. Nicht grundlos waren jene ersten, vom Schicksal geschlagenen Erzengel aus ihren heimatlichen Gefilden verstoßen und auf die Erde verbannt worden. Der Alte Mann hatte sie zu mächtig gestaltet, zu stark, ihre Kraft letzten Endes missbilligt und beschlossen, sie loszuwerden.
Nun glaubte Gabriel, gegen Superman zu kämpfen. Er sah Schweiß auf der Stirn des Adarianers stehen und auch den Hemdkragen tränken. Trotzdem gab sich der Mann nicht geschlagen.
Um ihn am Hemd zu packen und gegen die Wand zu drängen, musste Gabriel sich viel mehr anstrengen, als er es gewohnt war. Der Aufprall ließ den ganzen Raum erzittern. Aber der Adarianer knirschte nur mit den Zähnen.
Gabriel beugte sich vor. »Wo ist Abraxos?«, fauchte er, weil er vermutete, der adarianische Anführer müsste sich in der Nähe aufhalten und seine Soldaten auf den Sternenengel gehetzt haben. Seit Jahren wollte der General einen Sternenengel in seine Gewalt bringen, um sich dessen Heilkunst anzueignen.
Aber der Adarianer schenkte ihm nur ein grausames Lächeln, das seine attraktiven Züge unvorteilhaft verzerrte. »Du hast keine Ahnung, was da vorgeht, Gabriel«, zischte er atemlos
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