Gabriel
einem Traum gefangen. Vielleicht hatte er zu viel Ale getrunken und war von dem Kaminfeuer eingeschlafen.
Aber er wusste, dass es wirklich geschehen war.
»Also hast du sie endlich gefunden, Black«, sagte eine raue Stimme hinter ihm. Gabriel drehte sich zu Stuart um, der von einem Ohr bis zum anderen grinste. »Hab ich’s dir nicht gesagt? Ein Engel ist hierhergekommen.«
Gabriel blieb der Mund offen stehen. Die Frau, die sein Freund vorhin erwähnt hatte? »War sie das?«
»Aye.« Stuart klopfte ihm auf den Rücken. »Für so ein kleines, zartes Ding kann sie ganz schön zuschlagen.« Lachend ging er zur Bar, um noch ein Bier zu bestellen.
Unfähig, sich zu bewegen, schaute Gabriel vor sich hin. Parmaveilchen. Nach Blumen und Bonbons schmeckte sie. Juliette, so hieß sie, hatte Stuart gesagt.
Noch nie hatte er sich so gefühlt wie in jenem Moment. Gelangweilt hatte er beim Feuer gesessen. Und plötzlich war ihm noch heißer geworden, wie im Fieber. Ringsum hatte die Luft geknistert und ihm den Atem geraubt. Dann war er aufgestanden. Quer durch das Pub war er ihrem Blick begegnet.
Tausend Gedanken waren ihm durch den Kopf gerast, und zugleich war sein Kopf völlig leer gewesen. Mitten in dem Lärm hatte für ihn vollkommene Stille geherrscht. Die Zeit schien sich zu beschleunigen und zugleich stillzustehen.
Zwei Jahrtausende. Zwanzig Jahrhunderte. Eine Ewigkeit, um jemanden zu suchen. Und als er in die Augen der Frau gestarrt hatte, von der er in mindestens siebenhunderttausend Nächten geträumt hatte, hatte er sofort Bescheid gewusst: die Suche war beendet. Natürlich hätte er sie nicht gehen lassen dürfen. Zumal nicht, da sie in diesen engen Jeans und den Lederstiefeln ins Pub gekommen war, in dieser dünnen Bluse, die ihre Schultern entblößte, ihre seidige Haut.
Und dann war sein Sternenengel davongelaufen. Das konnte er der Frau nicht verübeln. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen betrunkenen Grobian. Mit gutem Grund.
Doch das würde ihn nicht zurückhalten. Keinesfalls durfte er sie verlieren. Die unverhoffte Ankunft seines Sternenengels hatte ihn verwirrt und der Kuss den letzten vernünftigen Gedanken aus seinem Gehirn verscheucht. Nie zuvor in seinem langen Leben hatte er eine Frau so leidenschaftlich begehrt, und das schon nach wenigen Sekunden. In jenem Moment war er nicht sicher gewesen, ob er sich selbst trauen konnte. Noch mehr wollte er nicht vermasseln.
Plötzlich knisterte die Luft wieder. Die Stirn gefurcht, wandte er sich zur Treppe. Die war leer. Aber das Knistern nahm zu. Instinktiv stürmte er die Stufen hinauf.
Juliette warf die Tür hinter sich zu und verriegelte sie, sank gegen sie und versuchte Atem zu schöpfen.
Unglaublich, was soeben geschehen war. Zitternd fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht. Bei den Lippen hielt sie inne und berührte die verräterische Schwellung. Ich bin geküsst worden. Vom großartigsten Mann, den die Welt jemals gesehen hat.
Die Lider geschlossen, lehnte sie ihren Kopf an die Tür. Ihr Körper fühlte sich an, als würde er um ihre Seele herumschwirren. Irgendetwas hatte der Mann zu ihr gesagt, und sie wollte sich daran erinnern. Doch sie konnte nur an den Kuss denken, an die Glut, die in ihr erwacht war. Und an diese Augen. Wie geschmolzenes Silber. Die Engelsaugen in ihrem Traum.
Plötzlich spürte sie einen Luftzug, hob die Lider, und ihr stockte der Atem. Sie fand gerade noch Zeit, um kurz zu schreien, bevor sich ein Mann auf sie stürzte, der zuvor nicht da gewesen war. Der Fremde umfing sie wie eine dunkle Decke, drehte sie um und drückte ihren Rücken an seine Brust. Gleichzeitig presste er seine Hand so fest auf ihre geschwollenen Lippen, dass es wehtat. Sie spürte ein Tuch vor ihrer Nase und ihrem Mund und nahm einen beißenden Geruch wahr. Instinktiv wusste sie, dass der Angreifer sie mit Chloroform zu betäuben versuchte.
Sie wagte nicht mehr zu atmen, ihr hämmerndes Herz verlangte Sauerstoff. Aber wenn sie Luft holte, würde das Betäubungsmittel ihr die Besinnung rauben. Noch nie hatte sie solch eine panische Angst empfunden.
Durch den Nebel ihres Entsetzens sah sie die Gegenstände im Zimmer schwanken. Die Lampe wackelte auf dem Tisch, der brandneue Hartschalenkoffer rutschte über den Boden, die Schranktür öffnete und schloss sich. Entgeistert riss sie die Augen auf. In ihrem Hotelzimmer spielte sich ein absonderlicher Albtraum ab, und der Blitz, der gerade vor dem Fenster zuckte, verlieh der Szene einen
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