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Gabun - Roman

Gabun - Roman

Titel: Gabun - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meinrad Braun
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Lichtung, schoss es mir durch den Kopf, ein Sumpf. Es war ein Sumpf, auf den wir hinuntersegelten, und das viel zu schnell. Ich hielt mit der einen Hand das Steuerrad gezogen bis zum Anschlag und grapschte gleichzeitig mit der anderen nach meinem Müllsack, riss ihn an mich und umarmte ihn so fest, wie ich bislang nie irgendetwas oder jemanden umarmt hatte.
    Es gab einen heftigen Schlag. Das Fahrwerk krachte mit einem Ruck weg, und es haute mich in die Gurte, mein Kopf schlug in den zerplatzenden Müllsack, es riss uns weiter, das Flugzeug schlidderte seitwärts auf einer Tragfläche, durch das offene Fenster schoss kübelweise Sumpfwasser herein. Als das Flugzeug mit dem Rest seiner Bewegungsenergie gegen etwas prallte, knallte ich noch einmal in den Haufen Tetrapaks und Plastikbecher hinein, den ich die ganze Zeit umarmte. Ich hielt die Augen zugepresst, bis sich nichts mehr rührte. Danach wartete ich auf eine Explosion.
    Es kam keine. Stattdessen Stille. Ich hörte für ein paar Sekunden nichts, meine Ohren standen wohl noch unter Schock. Dann drangen die Dschungelgeräusche durch das offene Fenster herein, erst ganz leise, dann immer lauter, als drehe jemand langsam einen Regler wieder auf Normalstärke hoch. Meine Sinne kehrten zurück.
    Als Nächstes öffnete ich die Augen, aber ich sah nichts. Es herrschte vollkommene Finsternis. Das Mondlicht, das uns während des Fluges ständig begleitet hatte, war verschwunden. Dann bemerkte ich, dass mein Hemd durchnässt war und mein linker Fuß bis über den Knöchel im Wasser stand. Es ist tatsächlich ein Sumpf, dachte ich, wir sind in einen Sumpf gestürzt. Wir würden womöglich untergehen. Mein Selbst brachte die Dinge automatisch in eine Reihenfolge, das hatte auch Robinson tun müssen. Aber ich war nicht allein, so wie er es gewesen war. Neben mir lag ein Haufen Müllsäcke. Ich schob meinen Arm hinein und fand gleich Felicités Hand. Ihre Finger fühlten sich schlaff an, sie erwiderten meinen Druck nicht. Felicités leblose Hand in der meinen, schob ich die Müllsäcke zur Seite.
    Eine neue, noch unbearbeitete Katastrophe entwickelte sich in meinem Kopf: Felicité könnte tot sein. Oder sie war schwer verletzt, und ich konnte ihr nicht helfen, wieder nicht. In der Kabine war es so finster wie im Hinterzimmer der Nacht. Ich tastete mich an Felicités Arm entlang und zog sie aus dem Tohuwabohu der aufgeplatzten Müllsäcke zu mir her, während ich auf verdächtige Sinkgeräusche horchte, weil ich damit rechnete, dass wir gleich untergehen würden.
    Im Dunkeln fand ich ihr Gesicht, ich befühlte es genau, dann ihren Hals, die Schultern. Ich forschte nach Verletzungen, nach der Feuchtigkeit von Blut. Schließlich hatte ich sie vollends aus dem Müll heraus, fasste unter ihren Hinterkopf und zog sie an mich, um ihren Atem an meiner Wange zu fühlen. Sie war ganz schlaff und überraschend schwer, ich musste richtig zupacken. Mein Herz klopfte wie ein Motor mit Vollgas und ausreichend Benzin im Tank. Als unsere Gesichter einander ganz nahe waren, berührte ich mit meiner Nase ihre Wangen. Ich streifte ihre Lippen. An meinem Mund spürte ich auf einmal, dass sie atmete. Gott sei Dank. Ich war erleichtert, grenzenlos erleichtert. In diesem Moment meinte ich zu bemerken, dass Felicité sich rührte. Mein Mund war noch immer bei ihrem, unsere Lippen sehr nahe beieinander.
    Etwas brachte mich dazu, meinen Mund dort zu lassen, wo er sich gerade befand. Vielleicht brach sich unter dem Druck der Katastrophe und in der Erleichterung, dass Felicité lebte, eine mir bisher nicht bekannte Keckheit Bahn, oder ich war einfach sehr durcheinander. Ich küsste sie.
    Die Wirkung trat sofort ein. Der Kuss, wie soll ich es sagen, er erweckte sie zum Leben, es war wie im Märchen. Der Fortgang der Ereignisse jedoch nicht. Sie kicherte durch die Nase. Ich fühlte auch das Kichern sehr nahe auf meinem Gesicht.
    »Aber, aber«, sagte Felicité. »Ist das jetzt Mund-zu-Mund-Beatmung, Bern’, oder ist das was anderes?« Sie rührte sich unter den Müllsäcken, und ihr Mund war weg. Meine Keckheit ebenfalls.
    »Wir müssen aussteigen«, sagte ich.
    Ich hörte, wie Felicité sich aus den knisternden Müllsäcken herauswühlte, ohne dass sie auf das Zwingende meiner Äußerung eingegangen wäre. Draußen im Sumpf legten die paarungsbereiten Amphibien wieder los, sie hatten den Schreck über unsere Notlandung inzwischen verdaut und holten jeden Dezibel nach, den sie versäumt

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