Gaelen Foley - Amantea - 01
anzukämpfen. Sie befürchtete, Lazar weinend zuzurufen: Warum hat sie mich verlassen? Was habe ich falsch gemacht?
„Und wir schauen uns nun diesen Sonnenaufgang an, weil Ihr ganzes früheres Dasein zerstört worden ist. Ich bin dafür verantwortlich“, sagte er, als sich ihre Blicke wie-
der trafen. „Und nun müssen Sie einen Neuanfang finden. Habe ich Recht?“
Sie nickte langsam und sah ihm tief in die Augen.
Nach einer Weile blickte er zum Horizont. „Ich bin froh, dass Sie sich entschieden haben, doch noch Hoffnung zu haben.“
„Hoffnung gibt es immer“, erwiderte sie unwillkürlich. Sie wischte sich eine Träne von der Wange und fügte dann bitter hinzu: „Es sei denn, man nimmt sich das Leben. Meine Eltern gaben beide auf, Kapitän. Das werde ich ihnen niemals verzeihen.“
Lazar schwieg eine Weile. „Meine Liebe, haben Sie sich jemals gefragt, ob der Freitod Ihrer Mutter in Wirklichkeit gar keiner war? Schließlich hatte Ihr Vater viele Feinde.“
Sie schaute ihn aus großen Augen entsetzt an. „Was meinen Sie damit? Dass sie ... ermordet wurde?“
Er blickte sie nur nachdenklich und fest an.
„Lazar, wenn Sie etwas wissen, was ich nicht weiß, müssen Sie es mir verraten.“
Er schüttelte den Kopf und streichelte noch einmal ihr Knie. „Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Welt düsterer ist, als Sie vermuten, meine Kleine. Nun, ich glaube ein- fach nicht, dass Ihre Mutter Sie freiwillig allein gelassen hätte – ganz gleich, wie unglücklich sie über den Tod König Alphonsos gewesen sein mag.“
Allegra wandte sich von ihm ab. „Ich möchte nicht mehr darüber sprechen.“
„Wieso nicht?“
„Weil sie mich absichtlich verließ, Kapitän. Sie ließ mich allein zurück, weil sie ihren Freunden ins Grab folgen wollte. Sie wollte mich nicht, und mein Vater lehnte mich auch ab. Deshalb wurde ich zu Tante Isabelle abgescho- ben und zum Glück von ihr geliebt. Aber das heißt nicht, dass ich mich je zugehörig fühlte.
Wenn Sie nun nichts dagegen haben, würde ich gern über etwas anderes reden“, sagte Allegra steif. „Und zum Bei- spiel über Ihre Familie.“ Sie wollte herausfinden, ob die Erklärung des Vikars für die Vendetta mit der von Lazar übereinstimmte. „Wie haben Sie Ihre Familie verloren?“
Lange antwortete er nicht. Dann sagte er leise: „Sie wurde ermordet.“
Sie schloss die Augen. „Das tut mir so Leid.“
Er bewegte sich kaum.
„Wann ist das geschehen?“
Er zuckte die Schultern. „Ich war damals ein Junge. Sie kennen die Geschichte, Allegra“, erklärte er bitter. „Der Pass von D’Orofino, in der Nacht des großen Sturms. Zehn Minuten nach zehn. Zwölfter Juni siebzehnhundertsieb- zig.“
Verwirrt sah sie ihn an. „Ich verstehe nicht. Gestern sagten Sie doch, dass Sie ein Pirat sind.“
Er wich ihrem Blick aus und sah aufs Meer hinaus, wäh- rend die Brise ihm das Hemd an den Körper drückte. „Ur- teilen Sie selbst, Allegra. Was sehen Sie, wenn Sie mich anschauen?“
„Sie behaupten also ganz im Ernst, dass Sie König Alphonsos Sohn sind?“
Eine Weile herrschte Schweigen. Lazar brütete fins- ter vor sich hin. Allegra wartete auf eine Erwiderung und versuchte an seinem Mienenspiel seine Gedanken zu erraten.
„Es ist ganz gleich, wer ich bin“, sagte er schließlich. „Ich bin bloß ein Mann, und Sie sind eine Frau. Das ist alles, was für uns beide wichtig ist.“
„Wenn Gott Sie erschaffen hat, um auf Amantea zu herr- schen und es zu schützen, dann ist das sehr wichtig.“ Sie sah ihn fragend an. „Wenn Sie dieser Mann sind, dürfen Sie Ihre Bestimmung nicht verleugnen und Ihr Volk leiden lassen. Sie können Gottes Willen nicht trotzen.“
„Es gibt keinen Gott, Allegra.“
Sie hob den Blick zum Himmel und atmete hörbar aus – deutlich darum bemüht, die Fassung zu wahren.
„Wenn Sie der Prinz sind, warum sind wir dann von Amantea weggefahren?“
Lazar saß starr da und schien mit den Gedanken weit weg zu sein.
Sie versuchte es mit einer anderen Frage, um die Wahr- heit herauszufinden. „Wie sind Sie den Straßenräubern entkommen?“
„Es waren keine Straßenräuber. Es waren gedungene Mörder, die Ihr Vater angeheuert hatte. Und es war einfach Glück, dass ich ihnen entkam.“
Lazar starrte so lange in die aufgehende Sonne, dass Al- legra schon befürchtete, er müsste erblinden. „Nein“, sagte
er. „Nein. Es war kein Glück. Mein Vater gab sein Leben, damit ich fliehen konnte. Ich wünschte, es wäre
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