Gaelen Foley - Amantea - 03
widerstrebend zugeben, dass er wohl jedem der anwesenden Männer überlegen war. Sie spürte seine selbstverständliche Erhabenheit. Und sie war nicht gefeit dagegen.
Sie zwang sich dazu weiterzugehen, um ihre Suche nach Gianni fortzusetzen.
Sie brauchte weder Freundschaft noch Mitleid noch sons- tige großzügige Angebote – von Prinz Rafael nicht und
von keinem anderen Mann. Sie konnte sich um sich selbst kümmern. Das hatte sie schon immer getan.
Endlich kam sie zu einem Salon, der an den. Ballsaal grenzte. Von dort aus gelangte sie in einen schwach erleuch- teten Gang, den sie entlangeilte. Am Ende dieses Korridors befand sich eine schimmernde Marmortreppe, die sie bis in die zweite Etage hinaufführte. Sie durchlief auf jedem Stock- werk die Gänge und rief, so laut sie es wagte, Giannis Namen, erhielt jedoch keine Antwort.
Besonders verwirrend fand sie die illusionistischen Bilder, die sich am Ende vieler Korridore befanden. Mehrmals lief sie gegen eine Wand, da die dreidimensional angelegten Gemälde ihr den Eindruck vermittelt hatten, dass es weiterging.
Zweifelsohne hätte Prinz Rafael über sie gelacht, da sie sich so eindeutig als Landmädchen erwies.
Als sie schließlich diesen Teil des Palastes durchsucht hatte, kehrte sie zur Treppe zurück und strebte einem anderen Flügel zu. Doch auch dort hatte sie kein Glück.
Allmählich begann sie zu verzweifeln. Vielleicht hatte Ra- fael den Jungen in ein anderes Gebäude bringen lassen. Den- noch wollte sie noch nicht aufgeben, sondern rief wiederholt seinen Namen.
Plötzlich vernahm sie in einem Korridor einen gedämpf- ten Eulenschrei – Giannis Zeichen. Sie hielt die Luft an und fand schon bald das Zimmer, in dem er eingesperrt war.
„Signorina Daniela, sind Sie es? Ich bin hier drin! Die Tür ist verschlossen.“
„Gianni! Warte, ich hole dich gleich heraus!“
Rasch nahm sie eine Haarnadel aus ihrer Frisur und be- gann damit im Schloss herumzustochern. Um besser sehen zu können, schob sie die blaue Halbmaske nach oben. Dennoch schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Tür endlich öffnen konnte. Sie stürzte ins Zimmer.
„Gianni!“ Sie eilte zu dem Jungen und packte ihn bei den Schultern. Besorgt musterte sie ihn. „Wie geht es dir? Haben sie dir wehgetan?“
Plötzlich hielt sie inne. Gianni trug einen hübschen An- zug mit knielanger Hose und einem eleganten Halstuch. Sein Haar war leicht geölt und seitlich gekämmt.
„Mein Gott, Gianni! Was haben sie denn mit dir gemacht?“ rief Daniela aus. „Du bist ja ganz sauber!“
„Ja“, erwiderte der Kleine wütend. „Die verrückte Haus- dienerin hat mich gebadet und mir diese Kleider angezogen.“
„Zieh die Schuhe aus“, befahl sie sogleich. „Wir müssen hier heraus.“
„Gut. Es wird mir schon langweilig.“ Der Knabe setzte sich auf den Boden und zog die Schuhe aus.
Daniela sah sich währenddessen im Zimmer um und wun- derte sich darüber, dass Gianni besser aussah als beim letzten Zusammentreffen. „Keine schlechte Behausung.“
„Die Hausdienerin hat mir gesagt, dass es das Zimmer von Prinz Leo ist, wenn er seinen großen Bruder besucht.“
„Wirklich?“
„Ja, er ist auch zehn wie ich. Ich wünschte, ich wäre ein Prinz. Wie wollen wir fliehen, Signorina Daniela?“
Die Frage riss sie aus ihrer Verblüffung darüber, dass Rafael den Räuberjungen in dem Zimmer seines königlichen Bruders untergebracht hatte. „Damit.“ Sie nahm die Betttücher von dem Kinderbett, wickelte sie zusammen und machte ein paar Knoten mit je einem Fuß Abstand voneinander hinein. Dann ging sie zu den Doppelfenstern und öffnete sie. Als sie sah, dass die Tücher nicht ganz bis zum Balkon darunter reich- ten, riss sie noch die Damastvorhänge herab und knöpfte sie ebenfalls daran. Sie machte den Strick am Bettpfosten fest und warf ihn schließlich aus dem Fenster.
„Ihre Fluchtleiter, mein Herr“, verkündete sie.
Gianni schaute begeistert aus dem Fenster und blickte dann aufgeregt zu Daniela hoch. „Darf ich da hinunterklet- tern?“
„Glaubst du, dass du es schaffst?“
„Natürlich! Ich bin schon auf viel höhere Bäume gestie- gen.“
Dessen war sich Daniela sicher. Dennoch beunruhigte sie der Blick aus dem zweiten Stock des Palastes. Sie hockte sich vor den Jungen, fasste ihn an den Schultern und sah ihn fest an. „Lass dir Zeit mit dem Hinunterklettern. Am Ende des Stricks befindet sich ein Balkon, von wo aus du über das Rosengitter nach unten gelangst.
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