Gaelen Foley - Knight 01
half, sie zu besänftigen. Sie sprachen über andere Dinge, bis Bel sich schließlich verabschiedete. Als sie zu ihrem vis-à-vis zurückkehrte, war Dolph verschwunden. Sie fuhren zum Knight House zurück. Mehrmals blickte sie aus dem Rückfenster, um sicherzugehen, dass Dolph ihr nicht irgendwo auflauerte. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sie ihn los war, konnte sie in Muße über ihr Gespräch mit Harriette nachdenken. Während sie aus dem Fenster starrte, versuchte sie sich davon zu überzeugen, dass Harriette ihre La- ge eben nicht verstand. Robert war nicht wie die müßigen, ego- zentrischen Stutzer, die um die Wilson-Schwestern herum- scharwenzelten.
Plötzlich sah sie an der Ecke Regent und Beak Street im Ge- tümmel zwei vertraute Gesichter. Ihre Zeit als Orangenverkäu- ferin holte sie wieder ein, als sie ihren frechen achtjährigen Freund Tommy erkannte, der an der Ecke seinen Charme spie- len ließ und vor einem Gentleman die Straße fegte, während sein neunjähriger Bruder Andrew zu Bels Entsetzen hinter dem Herrn stand und ihm die Taschen ausräumte.
Mit aller Macht zog Bel an der Halteleine. Fast umgehend brachte William das vis-à-vis zum Stehen. Sie wartete nicht ab, bis er ihr den Schlag öffnete, sondern sprang aus der Kutsche, rannte zur Straßenecke und packte die beiden Lausbuben am Ohr.
Nicht eben sanft zerrte sie die beiden zur Kutsche.
„He, Lady, so lassen Sie uns doch los!“
„Ich bin’s, ihr Trottel! Erkennt ihr mich denn nicht?“
„Miss Bel?“ rief Tommy und sperrte den Schnabel auf.
„Was habt ihr vor, wollt ihr etwa am Galgen enden? Marsch in die Kutsche, sofort.“
„Ja, Madam.“
„Ja, Miss Bel.“
Kleinlaut und mit bleichem Gesicht krochen die beiden ins vis-à-vis.
Mit zorniger Miene und ängstlichem Herzen fragte sich Bel, ob irgendjemand den Diebstahl beobachtet hatte. Sie stieg in den Wagen und setzte sich den Kindern gegenüber. Die beiden verdreckten Knaben verbreiteten einen ekelhaften Geruch, und sie waren so abgemagert, dass sie mit Leichtigkeit in den Einzelsitz ihr gegenüber passten.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie fins-
ter an. „Ich bin schockiert und entsetzt über euch, Jungen. Her damit.“ Sie streckte die Hand aus.
Andrew sank in sich zusammen, gab ihr aber die goldene Uhr.
„Du bist ein sehr böser, ungezogener Junge“, erklärte sie ihm. „Hast du auch nur die geringste Ahnung, was passiert wä- re, wenn dich jemand erwischt hätte?“
Die beiden wechselten einen trübsinnigen Blick.
„Genau“, meinte sie streng, „du würdest ins Gefängnis wan- dern.“
„Bekommt man im Gefängnis zu essen, Miss Bel?“ erkundig- te sich Andrew.
„Sei nicht so vorlaut!“ rief sie, wobei es ihr kaum gelang, das Mitleid zu verbergen, das sie bei Andrews Frage überkommen hatte. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen, aber sie musste ihn tadeln, denn es wäre fatal, wenn sie auf diesem Weg des Verderbens weitergingen. Lieber Himmel, sie konnte sie nicht wieder auf die Straße zurückschicken.
Andrew senkte den Kopf. „Tut uns Leid, Miss Bel.“
„Ich weiß“, sagte sie streng. „Ab sofort werdet ihr nicht mehr stehlen, und zu essen bekommt ihr auch. Tommy, Andrew, ich bringe euch an einen Ort, wo man sich um euch kümmern wird.“
„Wohin?“ wollte Andrew wissen, der sofort misstrauisch wurde.
„In eine Schule.“
Tommy zog die Augenbrauen hoch. „Eine Schule?“
Bel nickte entschlossen. Sie könnte ihr nächstes Ballkleid abbestellen. Dafür bekämen die beiden Kinder ein Dach über dem Kopf, saubere Kleider und etwas zu essen; nötigenfalls würde sie sogar ihre Ersparnisse angreifen.
„Ich will nicht in die Schule“, erwiderte Andrew nach einem Moment finster.
„Mir egal“, entgegnete Bel.
„Wieso verkaufen Sie jetzt eigentlich keine Orangen mehr?“ erkundigte sich Tommy.
„Schau dir doch die schicken Klamotten an, Tom. Die geht jetzt auf den Strich“, meinte Andrew.
Schockiert sah Bel den Jungen an, und dann wäre sie am liebsten im Erdboden versunken. Sie presste die Lippen aufei- nander und wandte den Blick ab; sie sagte sich, nachdem die
beiden Jungen die Gaunerschule kennen gelernt hatten, waren sie durch nichts mehr zu erschüttern. Trotzdem war sie von Herzen froh, dass die beiden sie nicht fragten, wieso sie auf den Strich gehen, sie aber nicht stehlen durften, denn darauf hätte sie keine Antwort gewusst. Heiß überfielen sie die Schuldge- fühle, weil
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