Gaelen Foley - Knight 06
sich ein prachtvol- les Stadthaus mit einem Portikus, gerahmt von dicken weißen Säulen. Um diese späte Stunde waren sämtliche Fenster dunkel, und sie entschied, dass die Bewohner unmöglich so herzlos sein und etwas dagegen haben konnten, dass sie hier Schutz suchte, bis das Schlimmste vorüber war.
Einen Augenblick später wischte sie sich den Regen aus dem Gesicht und betrachtete von der vorderen Veranda aus den schönen Platz. Das, so dachte sie, müsste für diese Nacht genü- gen. Die Veranda wurde seitlich von niedrigen Mauern begrenzt, hinter denen sie sich verstecken konnte, falls die Kosaken vor- beikamen. Rechts und links neben der Vordertür standen ein paar spiralförmig gewachsene Büsche in großen Behältnissen aus Stein.
Mit einem erleichterten Seufzer lehnte sie sich an die Mauer, dann ließ sie sich vor Erschöpfung daran nach unten gleiten, bis sie auf dem steinernen Boden saß. Sie zog die Pelerine fester um sich, die Knie an die Brust und schlang die Arme darum, wäh- rend sie dem Regen zusah und auf seine Geräusche lauschte.
Wie einsam sie sich fühlte. Das ist doch nichts Neues. Mit ge- runzelter Stirn kämpfte sie ihr Selbstmitleid nieder, griff in ihre Tasche und zog widerstrebend das letzte Essbare heraus, was sie besaß: ein Pfefferminzbonbon, das sie zufällig bei sich hatte, als sie davongelaufen war. Sie zupfte eine Fluse ab, schob sich die Süßigkeit in den Mund und lutschte sie langsam, damit sie so lange wie nur möglich etwas davon hatte. Ihr Magen protes- tierte bei diesem mageren Angebot.
Sie warf einen Blick auf den verschlossenen Eingang mit sei- nem fein gearbeiteten Löwenkopf, der als Türklopfer diente, und dachte an all die Speisen, die da drinnen sein mochten, die weichen, gepolsterten Betten ... Bei diesem Gedanken fühlte sie sich noch elender. Sie lehnte sich an die Mauer und machte nur für einen Moment die Augen zu.
Einschlafen wollte sie auf gar keinen Fall.
Vor einer Stunde etwa hatte der Sturm nachgelassen und war in einen heftigen Regen übergegangen. Verschwommene Licht- kreise um die schmiedeeisernen Gaslaternen entlang der Ox- ford Street beleuchteten den niedergehenden Wolkenbruch. Die Straßen im West End schienen wie ausgestorben – abgesehen von einer eleganten schwarzen Kutsche, die durch die Nacht fuhr, gezogen von einem Gespann aus Rappen.
Die Stimmung in der Kutsche war heiter, die Insassen zähl- ten zu den höheren gesellschaftlichen Kreisen: große, sportliche und gut aussehende Männer, die in dem Ruf standen, vergnü- gungssüchtig zu sein. Makellos gekleidet saßen sie auf den sei-
denbezogenen Polstern und trugen lebhafte Wortgefechte aus.
„Wirst du jetzt endlich aufhören, den verdammten Würfelbe- cher zu schütteln?“
„Nein! Ich muss die Würfel in Schwung halten, damit ich zu- rückgewinnen kann, was ich beim letzten Kartenspiel verloren habe. Heute werde ich dein Geld einstecken, mein Freund. Und auch das von dir.“
„Genügt es dir nicht, mir die Geliebte ausgespannt zu haben? Bei der Gelegenheit – wie geht es ihr?“
„Gut, abgesehen davon, dass du sie schrecklich verwöhnt hast. Ein verdammt kostspieliges Frauenzimmer. Sag mir Be- scheid, wenn du sie zurückhaben willst.“
„Nein danke.“
Gelächter erscholl. Den vier Bonvivants war das Wetter egal. Als Frauenhelden, die von vornehmster Abkunft waren und aus Englands besten Familien stammten, nahmen sie sich alle Freiheiten. Jeder von ihnen war an das Leben der Aristokratie gewohnt, wo vom Tage ihrer Geburt an ein Wink genügte, damit eine Schar von Dienstboten alle Wünsche erfüllte. Sie hatten einander als Jugendliche in Eton kennengelernt und waren seit- her eng befreundet. Trotz der Gefahr, die sie darstellten – zu- sammen hatten sie etwa fünfzig Duelle ausgefochten, und die Frauen, die sie verführt hatten, ließen sich nicht mehr zählen –, wurden sie von allen hofiert.
Ihre Anwesenheit machte aus einem gesellschaftlichen An- lass ein begehrtes Fest, und ihre Missbilligung bedeutete Aus- schluss.
An diesem Abend hatten sie Lady Everley mit ihrer späten Ankunft erfreut. Der Ball bei den Everleys war einer der letzten dieser Saison, ehe die Londoner Gesellschaft sich auf ihrer un- ermüdlichen Suche nach Vergnügungen für den Rest des Som- mers nach Brighton begeben würde.
Nachdem sie den Ball gerade lange genug beehrt hatten, um die Gerüchte anzuheizen und mit ihren Aufmerksamkeiten ein paar naive Debütantinnen an den Rand einer Ohnmacht
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