Gai-Jin
»Drei aus Paris und einer aus Hongkong.«
»Oh, vielen Dank!« Als sie sah, daß zwei von Colette kamen, einer von ihrer Tante und der letzte von ihrem Vater, strahlte sie. »Wir sind so weit von zu Hause entfernt, nicht wahr?«
»Paris ist die Welt, ja, ja, das ist es. Nun, Sie werden jetzt allein sein wollen, Sie können das Zimmer gegenüber benutzen. Wenn Sie mich entschuldigen würden…« Mit geringschätzigem Lächeln deutete Vervene auf seinen überhäuften Schreibtisch. »Staatsangelegenheiten.«
»Selbstverständlich, vielen Dank. Und ich danke Ihnen auch für die guten Wünsche, aber bitte, kein Wort…« Graziös ging sie in dem Bewußtsein hinaus, daß ihr wundervolles Geheimnis bald überall bekannt sein und, von Ohr zu Ohr geflüstert, weitergegeben werden würde. Ist das klug? Ich glaube, ja. Schließlich hat Malcolm mich gefragt, oder?
Vervene öffnete seine Briefe, überflog sie, sah sofort, daß beide Frauen um Geld baten, keiner jedoch schlechte Nachrichten enthielt, legte sie beiseite, um sie später gründlich zu lesen, und machte sich, glücklich darüber, Überbringer guter Nachrichten zu sein, an die Depesche für Seratard mit einer heimlichen Kopie für André Poncin. »Einen Moment«, murmelte er, »vielleicht ist das Ganze maßlos übertrieben. Also formuliere ich es so: Vor wenigen Minuten flüsterte mir M’selle Angélique vertraulich zu, daß… Dann kann der Gesandte seine eigenen Schlüsse ziehen.«
Gegenüber, in einem hübschen Vorzimmer, das auf den kleinen Garten an der High Street hinausging, hatte Angélique es sich voller Erwartungsfreude bequem gemacht. Colettes erster Brief schilderte hübsche Neuigkeiten über Paris, die Mode, einige Affären und gemeinsame Freunde so reizvoll, daß sie ihn nur überflog, weil sie wußte, daß sie ihn noch sehr oft lesen würde, vor allem heute abend in ihrem bequemen Bett, wo sie alles so richtig genießen konnte. Sie kannte Colette fast ihr ganzes Leben lang und liebte sie; im Kloster waren sie unzertrennlich gewesen und hatten Hoffnungen, Träume und Vertraulichkeiten miteinander geteilt.
Der zweite Brief brachte noch glücklichere Nachrichten – Colette war so alt wie sie, achtzehn, aber bereits seit einem Jahr verheiratet, und hatte einen Sohn: Ich bin wieder schwanger, liebste Angélique, mein Mann ist hocherfreut, aber ich bin ein bißchen ängstlich. Wie Du weißt, war die erste Schwangerschaft nicht leicht, obwohl der Doktor mir versichert, daß ich stark genug sein werde. Wann kommst Du wieder, ich kann’s kaum erwarten…
Angélique holte tief Luft, sah zum Fenster hinaus und wartete, bis der kurze Schmerz vorüber war. Du darfst dich nicht öffnen, sagte sie sich, den Tränen nahe. Selbst nicht Colette. Sei stark, Angélique. Sei vorsichtig. Dein Leben hat sich verändert, alles hat sich verändert – ja, aber nur für kurze Zeit. Laß dich nicht überrumpeln.
Wieder ein tiefer Atemzug. Der nächste Brief schockierte sie. Tante Emma teilte ihr die schreckliche Nachricht vom tiefen Sturz ihres Ehemanns mit: …nun sind wir mittellos, und mein armer, armer Michel schmachtet im Schuldgefängnis, ohne daß Hilfe in Aussicht wäre! Wir haben niemanden, an den wir uns wenden könnten, kein Geld. Es ist furchtbar, mein Kind, ein Alptraum…
Der liebe, arme Onkel Michel, dachte sie, wie schade, daß er ein so schlechter Geschäftsmann war. »Macht nichts, meine liebe Tante-Mama«, sagte sie laut, von plötzlicher Freude erfüllt, »jetzt kann ich dir all deine Liebe vergelten. Ich werde Malcolm bitten, dir zu helfen, er wird bestimmt…«
Moment! Wäre das klug?
Während sie noch überlegte, öffnete sie das Schreiben ihres Vaters. Zu ihrem Erstaunen enthielt das Kuvert nur einen Brief, ohne den Sichtwechsel, um den sie gebeten hatte, den Sichtwechsel auf jene Geldsumme, die sie aus Paris mitgebracht und in der Victoria Bank deponiert hatte, und die der Onkel ihr großzügigerweise gegen das feierliche Versprechen vorgestreckt hatte, seiner Frau nichts davon zu sagen und ihren Vater anzuweisen, ihm das Darlehen sofort zurückzuzahlen, wenn sie in Hongkong eintraf, was er, wie er ihr gegenüber behauptete, getan hatte.
Hongkong, 10. September. Hallo, mon petit choux, ich hoffe, daß es Dir gut geht und daß Dein Malcolm Dich so vergöttert, wie ich es tue, wie ganz Hongkong es tut. Es heißt, daß sein Vater im Sterben liegt. Ich werde Dich auf dem laufenden halten. Mittlerweile schreibe ich Dir nur kurz, weil ich mit der
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