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Gaisburger Schlachthof

Gaisburger Schlachthof

Titel: Gaisburger Schlachthof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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zu erwarten.«
    Er stutzte, dann lachte er auf. »Sie haben doch genau das hören wollen!«
    »Nun ja …« Ich verscheuchte meine Rührung. »Und wie … wie fühlt man sich als Mann?«
    »Bitte?«
    »Ich meine, Sie haben von klein auf gewusst, dass Sie ein Mann sind, leider in einem weiblichen Körper. Aber wie fühlt man das? Wie fühlt sich so eine männliche Identität an?«
    »Wie sich das anfühlt?« Richard setzte sich wieder hinter seinen Tisch. Zum ersten Mal sah ich ihn offen erstaunt, sogar verwirrt. Und er nahm sich Zeit dafür. »Seltsam«, sagte er schließlich, »dass Sie das fragen.«
    Jetzt lachte ich. »Sie irren sich, Richard! Ich bin nicht wie Sie ein Mann im falschen Körper. Ich bin eine Frau, die auf die Möglichkeiten des Perspektivwechsels nicht verzichten will.«
    Sein Lächeln war entwaffnend. »Und ich dachte, Sie hätten mit Ihrem – wie Sie das nennen – Perspektivwechsel testen wollen, ob irgendwas in mir noch Frau ist.«
    »Um Himmels willen! Ich hatte doch gar keine Ahnung, bis vorgestern.«
    »Es wäre auch nicht gegangen, Lisa. In mir ist nichts eine Frau. Nie gewesen.«
    Deshalb mochte er auch meine unblonde Draufgängerei nicht. »Okay.«
    Er blickte mich nachdenklich an. Aber er sagte nichts, was mich aus meinen weiblichen Minderwertigkeitsgefühlen geholt hätte.
    »Na gut. Dann gehe ich mal«, sagte ich.
    Das Lächeln auf seinen Lippen war schwer zu deuten. Etwas zwischen Nachsicht und Enttäuschung. Ich war ein Feigling. Ich konnte ihm zum Abschied nicht einmal die Hand geben.
    Das Linoleum im Gang meckerte unter meinen Turnschuhsohlen. Einer, der hier täglich seine Lebenszeit verplemperte, ohne grau und bösartig zu werden, musste eine starke innere Rüstung besitzen oder vielmehr sich im absoluten inneren Gleichgewicht befinden. Das Zünglein an der Waage immer auf null. Wie beispielsweise ein Sohn der Waagenstadt Balingen.
    Ich blieb stehen. Ich drehte mich um. Ich eilte zurück. Jeder Schritt ein kurzer Protest. Ich stieß die Tür auf. Kallweits Refugium. Ich stieß die nächste Tür auf. Richard spielte mit dem Feuerzeug.
    Einen Moment sollte man es schon aushalten können, dachte ich, sich einfach nur anzustarren und keine Lösung zu wissen.
    Richard legte das Feuerzeug hin. »Na«, sagte er, »hat dich der Mut verlassen?«
    »Wer ist denn hier der Mann?«, raunzte ich und zog ihn am cognacfarbenen Revers hinter dem Schreibtisch hervor. Er stolperte über seine Aktentasche und krallte sich in meine doppelten Seidenblusen. Ich hatte ihn, aber wie fasste ich ihn nun an? Seit meiner ersten Liebe hatte ich nicht mehr solche Angst gehabt vor dem ersten Kuss und dem Unbekannten dahinter. Wohlan denn: der Krawattenknoten.
    Wenn das Opfer der Begierde lächelte, hieß das nicht unbedingt, dass es sich überlegen fühlte. Es konnte auch heißen, dass es die Anspannung anders nicht meisterte.
    Die Hand, die meiner am Krawattenknoten zu Hilfe kam, war feucht und zitterte.
    Die Hemdknöpfe, die Westenknöpfe, dann wieder Hemdknöpfe. Was hatte der nur alles an? Darunter eine feste glatte Brust. Ich verbot meinen Fingern, nach den Narben zu tasten. Lieber abwärts zum Hosenbund. Aber wie weiter? Meine Hand war so was von feige. Mir brach der Schweiß aus.
    »Das hast du dir leichter vorgestellt«, bemerkte er.
    »Lohnt es denn die Mühe?«, fragte ich.
    Er sah mir in die Augen, zweifelnd.
    Musste ich ihn erst überzeugen? Erwartete der Herr, dass ich ihn in Fahrt brachte? Betrachtete er mich mit kaltem Her zen? Amüsierte er sich über meine Ratlosigkeit? Oder brauch te er eindeutige Vorleistungen? Aber welche denn noch?
    Richard senkte den Blick, streifte mit den Fingerspitzen über meinen Hals zum Schlüsselbein. Eine Geste des Mitleids? Doch dann ein rascher Strich zwischen meine Brüste, ein Griff in die Vollen. Ein Entgegenkommen, rein ge schäftsmäßig.
    Du meine Güte, so ging das nicht. Ich rückte ab.
    Er hob die Augen, schaute mich an, überrascht und zu schnell resigniert.
    Da langte ich ihm in den Schritt an den Knüppel. Richard zuckte zusammen und knurrte. Das Telefon flog vom Tisch. Der Affe frohlockte.

24
     
    KOK Christoph Weininger ließ sich nichts anmerken. »Hätten Sie wohl ein paar Minuten Zeit für mich?«
    »Wenn es denn so wichtig ist«, sagte Weber und vollende te seinen Krawattenknoten.
    Natürlich war es wichtig, wenn ein Kriminaloberkommissar sich Freitagnachmittag, wenn alle anderen Beamten in den Feierabend abrauschten, im verschwitzen Hemd in

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