Galgenberg: Thriller (German Edition)
noch, dass sie zu zweit waren. Sehr höflich. Sie kamen ins Haus und tranken Kaffee. Sie erklärten uns, dass Suzanne in den Norden gefahren war, dass sie allem Anschein nach in der Nähe der Grenze darauf gewartet hatte, das Land verlassen zu können. Sie sagten, sie hätte Malaria bekommen und sei gestorben.«
»Warum haben Sie nicht darum gebeten, sie hier zu bestatten?«
Mrs le Roux sann über diese Frage nach, als hätte sie ihr noch niemand gestellt. »Sie sagten, das Krankenhaus hätte die Beerdigung organisiert.«
»Ihr Vater hat nicht darum gebeten, Suzannes Leiche zurückzubekommen?«, fragte Clare.
»Mein Mann war damals schon krank.« Mrs le Roux nestelte an ihrem Ehering herum. »Ich wusste, was das Beste für ihn war, darum entschied ich für ihn. Es war besser, nicht an diesen Dingen zu rütteln. Darum haben wir nicht daran gerüttelt. Wir hatten schon genug Ärger mit der ganzen Sache. Und Lilith, du warst so schwierig, so durcheinander. Deshalb war es am besten so, das musst du verstehen. Die Sozialarbeiterin fand das auch.«
»Nein, ouma . Es wäre viel besser gewesen, wenn wir Bescheid gewusst hätten«, widersprach Lilith.
»Wieso hätten wir denn misstrauisch werden sollen?«, fragte Mrs le Roux. »Dein oupa war in der Armee. Er wusste, was da vor sich ging, er wusste, was Leute wie deine Mutter wollten.«
»Sie haben gelogen. Sie haben alle gelogen. Die ganze Zeit«, sagte Lilith. » Alles, was sie uns über ihren Tod erzählt haben, war gelogen. Man hat nämlich ihren Leichnam gefunden. Meine Mutter wurde ermordet und am Gallows Hill verscharrt, als wäre sie ein Hund.«
Eine Uhr zeigte in elf getragenen Glockenschlägen die Stunde an. Lilith erschauderte, so als würde der Klang die end- und trostlosen Tage in diesem stummen, stickigen Haus zu neuem Leben erwecken.
»Ich muss wissen, was damals passiert ist und wer meine Mutter wirklich war, ouma «, sagte sie. »Das ist deine letzte Chance. Diesmal musst du mir die Wahrheit sagen.«
»Wenn du das unbedingt wissen willst, mein Mädchen, dann werde ich dir zeigen, was Suzanne für ein Mensch war. Diese Mutter, die du für eine Heilige hältst.«
Mrs le Roux griff nach ihrem Stock. Clare und Lilith folgten ihr in die Küche. Mrs le Roux tippte eine Zahlenfolge in ein schweres Schloss, und eine Tür öffnete sich zu einem kleinen Raum, der einst wahrscheinlich als Speisekammer gedient hatte. Die Regale waren mit Treibgut gefüllt, das sich über die Jahrzehnte angesammelt hatte. Mrs le Roux wühlte darin herum und zog eine große Schachtel ganz hinten von einem Brett.
»Hilf mir, die herunterzuheben. Und dann mach sie auf und sieh hinein. Damit du weißt, wie deine Mutter wirklich war.«
Lilith nahm die Schachtel und öffnete sie, eifrig wie ein Kind an Weihnachten. Sie war mit Skizzenblöcken gefüllt. Die Bilder waren faszinierend. Eine Serie erotischer Zeichnungen. Klein und lebendig, Rohskizzen für spätere Gemälde, alle mit Suzannes karmesinroter Signatur.
»Dieser Schmutz – davor habe ich dich beschützt. Und nichts anderes war deine Mutter – nur Schmutz.«
Lilith blätterte in einem Skizzenbuch. Nackte Körper in verschiedenen Stadien der Selbstvergessenheit. Es war nicht immer festzustellen, ob sie lebendig oder tot waren. Die Seiten waren mit Suzannes spinnenhafter Handschrift überzogen. Namen, Orte, Daten, manchmal ein einzelner beschreibender Halbsatz, Zahlen, Berechnungen. Die Maße für größere Arbeiten, vielleicht für zukünftige Ausstellungen.
»Er sieht aus wie Gilles.« Lilith blickte auf die Zeichnung eines schlafenden Mannes, neben dem eine nackte Frau kauerte, eine brennende Kerze in der Hand. Das Gesicht der Frau wirkte heiter und gelöst, aber zwischen ihren Beinen klaffte ein blutroter Fleck. Ihre Augen – Suzannes Augen, Liliths Augen – starrten aus dem Bild heraus.
»Warum hast du mir die nie gezeigt?«, fragte Lilith.
»Die durfte niemand sehen«, antwortete Mrs le Roux. »Man soll ja nichts Schlechtes über die Toten sagen, aber Suzanne hat sich alles, was ihr zugestoßen ist, selbst zuzuschreiben.«
»Die nehme ich mit«, beschloss Lilith. »Vielleicht hat tatsächlich einer der Männer, mit denen sie sich eingelassen hat, im Rausch die Beherrschung verloren, und Suzanne musste das mit dem Leben bezahlen. Vielleicht hast du recht, ouma , vielleicht war wirklich nicht mehr dabei. Meine Schlampe von Mutter. Wie viele Frauen mussten schon allein aus diesem Grund sterben?« Sie
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