Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Mandant sein mochte, andererseits war es nicht ungewöhnlich, dass Ballinger ihn ihm nicht vorstellte. Er wusste nur zu gut, dass es in diesem Beruf bisweilen auf äußerste Diskretion ankam. Wenn jemand an einem Samstagvormittag seinen Anwalt persönlich aufsuchte, dann steckte meist etwas Außergewöhnliches und völlig Unerwartetes dahinter.
»Danke, dass du so entgegenkommend warst, mich kurzfristig zu empfangen«, erwiderte er mit aller Freundlichkeit, die er aufbringen konnte.
Ballinger nickte. »Gern geschehen. Wäre nicht diese dringende Angelegenheit dazwischengekommen, hätte ich dir gerne Tee angeboten und mich länger mit dir unterhalten.«
Sie reichten sich die Hände, und Rathbone trat in die leere Vorhalle hinaus. Wer immer Ballinger sprechen wollte, war in einen anderen Raum geführt worden, damit er dort wartete, bis Rathbone gegangen war. Dem Anwalt schoss die Frage in den Sinn, ob es sich um jemanden handelte, den er erkannt hätte. Ein angenehmer Gedanke war das nicht.
Während er mit einem Hansom heimfuhr, konnte er eine gewisse Unruhe einfach nicht abschütteln. Mit grausamer Ehrlichkeit folgten seine Gedanken ihrem eigenen logischen Weg. Wenn Phillips Männer zu seinen Kunden zählte, die es sich leisten konnten, Rathbones Rechnungen zu bezahlen und an einem Samstagmorgen unangemeldet bei Ballinger aufzutauchen, wozu waren sie dann noch in der Lage, falls sie durch die Bedrohung, bloßgestellt zu werden, ernsthaft unter Druck gerieten?
Natürlich konnte Rathbone überhaupt nicht wissen, ob Ballingers Gast mit Phillips zu tun hatte, dennoch ließ ihn diese Möglichkeit nicht mehr los. Ballinger hatte deutlich genug erkennen lassen, dass er in der Schuld dieses Mandanten stand, egal, welcher Natur diese war.
Rathbones Sorgen legten sich nicht, als er durch die wie jeden Samstag geschäftigen Straßen fuhr, vorbei an den hohen, eleganten Fassaden, den davor wartenden Kutschen mitsamt den vorgespannten Pferden mit schimmerndem Fell, an Dienern in schmucker Livree und an modisch gekleideten Damen. Wen konnte Jericho Phillips auf den Plan rufen, wenn er sich durch Monks unbeirrt fortgesetzte Ermittlungen bedroht fühlte? Und welche Macht mochten solche Männer haben und zu nutzen bereit sein, um ihren Ruf zu schützen?
Beklommen fragte er sich, auf wessen Seite Margaret stehen würde, wenn irgendetwas davon ans Licht kam oder zu Feindseligkeiten innerhalb der Familie ausartete. Auf der Seite ihres Vaters, dem sie ihr Leben lang nahe gewesen war, oder auf seiner, obwohl sie erst seit einem Jahr verheiratet waren? Die Antwort darauf wollte er gar nicht wissen. Beides wäre schmerzhaft, und er hoffte aus tiefstem Herzen, dass Margaret nie vor die Wahl gestellt wurde. Aber selbst wenn ihr das erspart blieb, würden ihn nicht trotzdem Zweifel beschleichen?
Monk gönnte sich übers Wochenende eine kurze Erholung. Bei einem gemeinsamen Spaziergang erklommen Hester und er die sanfte Anhöhe im Park und blieben auf der Kuppe lange dicht nebeneinander in der Sonne stehen. Sie schauten hinab auf den in gleißendem Licht liegenden Fluss und beobachteten die Boote, deren Ruder stetig im Wasser versanken und wieder auftauchten. Monk wusste genau, welches Geräusch beim Eintauchen der Ruderblätter in das Wasser entstand. Aus der Ferne drangen Fragmente von Melodien an ihre Ohren. Durch das Laub raschelte eine kühle Brise, die den süßen Duft von Gras heranwehte und so den scharfen Geruch der Tide abmilderte.
Aber am Montag war alles anders. Noch bevor Monk um sieben Uhr morgens an Bord der Fähre zur Polizeiwache von Wapping klettern konnte, fing ihn Orme auf seiner Seite des Flusses bei den Princes Stairs ab. Die Uniform seines Adjutanten war tadellos, doch sein Gesicht wirkte müde, als hätte er heute trotz der frühen Stunde bereits bis zur Erschöpfung gearbeitet.
Orme salutierte. »Morgen, Sir. Ich hab schon’ne Fähre für Sie aufgetrieben, wenn Sie möchten?«
Monk brauchte ihm nur in die Augen zu blicken, und schon spürte er, wie sich sein Magen verkrampfte und ihm ein Kloß in die Kehle stieg. »Danke. Haben Sie in der Zeit meiner Abwesenheit etwas Neues in Erfahrung gebracht?« Er folgte Orme zum Rand des Kais und die Stufen zur Fähre hinunter, die sanft im Kielwasser eines vorüberrauschenden Leichters schaukelte. Sie sprangen an Deck, woraufhin der Schiffer sofort ablegte und aufs gegenüberliegende Ufer zuhielt.
»Ja, Sir«, sagte Orme mit gesenkter Stimme, damit ihn niemand
Weitere Kostenlose Bücher