Galgenfrist für einen Mörder: Roman
übereilten Beschuldigungen um sich werfen, bringen Sie sich in höchste Gefahr. Ich denke, das ist Ihnen klar?« Das war eindeutig eine Frage, die eine Antwort verlangte.
»Selbstverständlich, Mylord«, knurrte Rathbone. »Darum habe ich bei der Auswahl derer, die ich diesbezüglich angesprochen habe, äußerste Sorgfalt walten lassen.« Es wäre möglicherweise unklug gewesen, Sullivan in dem Glauben zu wiegen, er hätte das niemandem außer ihm anvertraut. »Aber ich kann es nicht ignorieren. Das Potential für Korruption ist zu groß.«
»Korruption?« Sullivan starrte Rathbone an. »Übertreiben Sie da nicht ein wenig? Wenn bestimmte Männer … Vorlieben haben, die Sie nicht schätzen, sind dann ihr Privatleben oder die Gesellschaft, mit der sie sich umgeben, wirklich Dinge, die Sie etwas angehen?«
»Wenn sie um ihr Geld erpresst werden, dann wahrscheinlich nicht«, erwiderte Rathbone, jedes Wort abwägend. »Dann sind sie zwar Opfer, aber solange sie nicht vor Gericht klagen, ist ihr Leiden rein privater Natur.«
Ein Diener kam vorbei, zögerte kurz und ging weiter. Eine Frau lachte.
»Aber wenn es Männer von Macht sind«, fuhr Rathbone fort, »und der Preis nicht mehr in Zahlungen besteht, sondern im Missbrauch dieser Macht, dann wird er zu unser aller Sache. Insbesondere dann, wenn er von hochstehenden Persönlichkeiten im Finanzwesen, in der Regierung oder in der Rechtsprechung betrieben wird.« Seine Augen bohrten sich in die Sullivans, und es war der Richter, der blinzelte und den Blick abwandte.
»Was, wenn dieser Mann sich dazu erpressen lässt, sich blind zu stellen und die Gesetze zu verbiegen?«, setzte Rathbone nach. »Was, wenn Betrug oder Veruntreuung stattfindet, um Phillips zu bezahlen, nachdem dessen eigene Mittel versiegt sind? Oder wenn Polizeibehörden Verbrechen geschehen lassen und sogar dabei Vorschub leisten? Hafenämter könnten bei Schmuggel, Diebstahl oder womöglich Mord wegschauen. Anwälte und selbst Richter könnten das Recht in sein Gegenteil verdrehen. Wer kann schon sagen, wer alles in die Korruption verwickelt ist oder wie tief sie das Gewebe all dessen durchdringen kann, woran wir glauben, all dessen, was unsere Rechtsprechung vom Gesetz des Dschungels unterscheidet?«
Sullivan schwankte, das Gesicht aschfahl. »Kriegen Sie sich in den Griff, Mann!«, zischte Rathbone. »Ich werde dieses Verbrechen nicht durchgehen lassen. Diese Jungen werden geschlagen, vergewaltigt, und diejenigen, die sich wehren, werden gefoltert und ermordet. Sie und ich haben gemeinsame Sache dabei gemacht, Phillips straffrei davonkommen zu lassen, und Sie und ich werden zusammen dafür sorgen, dass das Recht doch noch durchgesetzt wird!«
»Das können Sie nicht«, murmelte Sullivan kläglich. »Niemand kann ihn aufhalten. Das haben Sie doch selbst gesehen. Sie wurden genauso als sein Werkzeug benutzt wie ich. Wenn Sie sich jetzt gegen ihn wenden, wird er behaupten, Sie seien ein Kunde und hätten ihn verteidigt, um sich selbst zu retten. Dass das Ihr Erpressungsgeld gewesen sei.« Hoffnung flackerte in Sullivans mittlerweile schweißglänzendem blassem Gesicht auf, und er wich mehrere Schritte zurück.
Doch Rathbone folgte ihm und drängte ihn noch weiter weg vom allgemeinen Geschehen. Die anderen Gäste nahmen an, sie führten ein vertrauliches Gespräch, und ließen sie in Ruhe.
»Wie, in Gottes Namen, konnte Ihnen das bloß passieren?«, knurrte Rathbone. »Setzen Sie sich, bevor Sie umkippen und sich vollends lächerlich machen!«
Sullivans Augen weiteten sich, als gefiele ihm diese Vorstellung. Ohnmacht! Es gab also doch noch einen Ausweg!
Rathbone durchschaute ihn. »Denken Sie nicht einmal daran!«, blaffte er. »Die Leute werden Sie nur für betrunken halten. Und es wird das Unvermeidliche lediglich hinausschieben. Wenn Sie sich beherrschen könnten, wenn Sie einfach aufhören könnten, hätten Sie das doch sicher um unseres Herrn im Himmel willen getan?«
Sullivan kniff die Augen zu, um den Anblick von Rathbones Gesicht auszusperren. »Natürlich hätte ich das getan, verdammt noch mal! Das Ganze begann in … aller Unschuld.«
»Tatsächlich?«, fragte Rathbone eisig.
Sullivan riss die Augen weit auf. »Ich wollte doch nur … etwas Aufregendes! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie … gelangweilt ich war. Immer dasselbe, Nacht für Nacht. Keine Spannung, keine Erregung; ich fühlte mich halb tot. Die große Leidenschaft ging an mir vorbei. Begehren, Gefahr, Romanze,
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