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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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das alles fand ohne mich statt. Nichts berührte mich! Was ich hatte, wurde mir auf einem silbernen Tablett serviert, leer, ohne … jede Bedeutung. Ich musste mich für nichts anstrengen. Ich aß und stand so hungrig auf, wie ich mich gesetzt hatte.«
    »Ich nehme an, Sie sprechen von sexuellem Hunger?«
    »Ich spreche vom Leben, Sie geschniegelter Scheißkerl!«, zischte Sullivan. »Dann tat ich eines Tages etwas Gefährliches. Ich pfeife auf Beziehungen mit anderen Männern. Das widert mich an, bis auf den Umstand, dass es illegal ist.« Er bekam leuchtende Augen. »Spürten Sie jemals ein Singen in den Adern, ein Pochen in Ihrem Inneren, den Geschmack der Gefahr, des Entsetzens und zu guter Letzt die Erlösung, das befreiende Gefühl, dass Sie doch noch am Leben sind? Nein, natürlich nicht! Schauen Sie sich doch nur einmal an! Sie sind ausgetrocknet, verkrustet und verknöchert, und das, obwohl Sie noch keine fünfzig sind! Sie werden sterben und begraben werden, ohne dass Sie je wirklich lebendig waren.«
    Vor Rathbone tat sich eine Welt auf, von der er sich noch nie eine Vorstellung gemacht hatte, eine Welt voller Gier nach Gefahren, nach immer wilderen Risiken, nur damit man überhaupt noch etwas empfinden konnte, eine Welt, geprägt von dem Drang nach absoluter Macht über andere, damit man sich vollständig fühlen und vielleicht den Teufeln im eigenen Inneren Einhalt gebieten konnte, ein Drang, welcher diese Menschen aushöhlte und ihnen die Seele raubte.
    »Und fühlen Sie sich jetzt lebendig?«, fragte er leise. »Hilflos Ihren eigenen Gelüsten ausgeliefert, selbst wenn diese drauf und dran sind, Sie zu ruinieren? Sie zahlen einer Kreatur wie Jericho Phillips Geld; er schreibt Ihnen vor, was Sie zu tun und zu lassen haben – und das halten Sie für Macht? Ihr Hunger beherrscht Ihren Körper, und die Angst lähmt Ihren Verstand. Sie haben nicht mehr Macht als die Kinder, die Sie missbrauchen. Nur gibt es für Sie keine Entschuldigung.«
    Einen Moment lang sah sich Sullivan mit Rathbones Augen. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen des Entsetzens. Und fast hätte Sullivan Rathbone leidgetan, hätte er nicht völlige Geringschätzung für die Opfer seiner Obsession gezeigt.
    »Sie gingen also zu Ballinger, um einen Anwalt zu finden, der Phillips freibekommen konnte«, schloss er.
    »Natürlich. Hätten Sie das nicht getan?«
    »Das haben Sie sich gut ausgerechnet: Er ist mein Schwiegervater, ich war mit Monk befreundet und kannte ihn gut genug, um seine Schwächen auszunutzen, die die Kehrseite seiner Stärken waren.«
    »Ich bin schließlich nicht dumm!«, schnappte Sullivan.
    »O doch!«, bellte Rathbone. »Ein hoffnungsloser Narr! Jetzt haben Sie nicht nur den Erpresser Phillips im Nacken, sondern auch mich. Und die Bezahlung, die ich von Ihnen verlange, ist Phillips’Vernichtung. Damit sichern Sie sich auf alle Zeiten mein Schweigen zu diesem Thema, und natürlich werden Sie Phillips los, wenn er mit etwas Glück an einem Seil baumelt.«
    Sullivan schwieg. Sein Gesicht war schweißnass und hatte jede Farbe verloren.
    »Ich habe nicht vor, Sie zu ruinieren«, sagte Rathbone in einem Ton kalten Abscheus. »Ich bin darauf angewiesen, Sie zu benutzen.« Damit wandte er sich ab und ließ den Richter stehen.
     
    Am nächsten Morgen sandte Rathbone der Wache der Flusspolizei in Wapping eine Nachricht. Darin bat er Monk, so bald wie möglich zu ihm zu kommen. Es hatte keinen Sinn, sich persönlich auf die Suche nach Monk zu begeben, denn er konnte überall zwischen der London Bridge und Greenwich, wenn nicht sogar noch weiter draußen sein.
    Monk traf noch vor zehn Uhr bei ihm ein. Er sah wie immer makellos aus – frisch rasiert und unter der Uniformjacke ein ordentlich geplättetes weißes Hemd. Rathbone war darüber leicht amüsiert, auch wenn ihm das heute in seiner aufgewühlten Verfassung kein Lächeln zu entlocken vermochte. Das war der Monk, den er kannte: mit der sorglosen Eleganz eines Mannes gekleidet, der gern gute Sachen trug und den Wert von Selbstachtung schätzte. Doch seine Schritte waren heute nicht federnd, und Schatten unter seinen Augen ließen seine Erschöpfung ahnen. Er blieb mitten in Rathbones Büro stehen und wartete darauf, angesprochen zu werden.
    Rathbone wusste nur zu gut um die schrecklichen Beschuldigungen gegen die Wasserpolizei im Allgemeinen und gegen Durban und Monk im Besonderen. Sie hatten ihn von Anfang an empört, seit gestern schürten sie jedoch einen Zorn

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