Galgenfrist für einen Mörder: Roman
kühl. Sie trug ein vornehmes grünes Kleid aus Musselin, das ihre Figur zur Geltung brachte, und wirkte, als wäre sie nur gekommen, um ihnen Nachrichten zu überbringen oder möglicherweise Kommentare zu den bisherigen Ergebnissen abzugeben. Ihre Kleidung stellte einen markanten Kontrast zu Hesters Bluse und graublauem Baumwollrock dar, die für die Arbeit bestimmt waren. Margaret trat ein und nickte Squeaky kurz zu, ohne sich an ihn zu wenden. »Hatten Sie überhaupt vor, mir mitzuteilen, dass Claudine vermisst wird?«
Hester hatte sich immer noch nicht von der Überraschung erholt. »An Sie hatte ich gar nicht gedacht«, gestand sie aufrichtig. »Ich überlegte gerade, was wir tun können, um Claudine zu finden. Haben Sie einen Vorschlag?«
»Mein Vorschlag wäre gewesen, Claudine nicht ins Vertrauen zu ziehen, was Ihre Besessenheit von Jericho Phillips betrifft. Sie bewundert Sie so sehr, dass sie alles tun würde, um Ihre Freundschaft zu gewinnen. Sie ist eine Dame der Gesellschaft, dazu erzogen, charmant, unterhaltsam, gehorsam und eine gute Ehefrau und Gastgeberin zu sein. Von Ihrer Welt der Armut und des Verbrechens hat sie nicht den Hauch einer Ahnung, wenn man von den Gesprächsfetzen absieht, die sie bei den Straßenmädchen hier aufschnappt. Den Prozess hat sie nicht verfolgt. Dafür war sie zu sehr damit beschäftigt, den Betrieb der Klinik am Laufen zu halten. Und sie würde ganz gewiss nichts darüber in den Zeitungen lesen. Ehrbare Frauen befassen sich nicht mit derlei Dingen, und von den Straßenmädchen können ohnehin die wenigsten lesen. Von Ihrer Welt hat sie höchst naive Vorstellungen, und wenn Sie Ihrer Verantwortung gerecht geworden wären, wüssten Sie das auch.«
Hester fiel nichts zu ihrer Verteidigung ein. Zu bestreiten, dass die Straßen »ihre Welt« waren, hieße, der eigentlichen Kritik auszuweichen. Claudine war naiv, und Hester wusste das – oder hätte es wissen müssen, hätte sie einen Gedanken darauf verschwendet. Die Schuld, die Margaret ihr vorwarf, musste sie tatsächlich auf sich nehmen.
»Wollen wir hoffen, dass das nicht in einer Tragödie endet«, setzte Margaret nach.
Ein Geräusch an der Tür ließ sie alle herumfahren, und sie sahen Rathbone eintreten. Offensichtlich hatte er Margaret hierherbegleitet. Sie waren vielleicht gerade bei einem Empfang gewesen oder auf dem Weg dorthin.
Er blickte sie nacheinander mit ernster Miene an. Einen Moment lang verweilten seine Augen bei Hester, dann wandte er sich an Squeaky. »Mr. Robinson, wären Sie bitte so freundlich, uns kurz allein zu lassen. Mrs. Monk wird wieder zu Ihrer Verfügung stehen, sobald ich mit ihr gesprochen habe. Vielen Dank.«
Squeaky warf Hester einen fragenden Blick zu. Auf ihr Nicken hin verließ er den Raum und schloss die Tür.
Hester erwartete, dass Rathbone Margarets Vorwürfe bekräftigen würde. Das geschah aber nicht. Vielmehr hielt er Margaret eine kleine Ansprache. »Deine Kritik ist nicht hilfreich, Margaret«, sagte er leise. »Und wie ich meine, ist sie auch unfair. Welche Initiative Mrs. Burroughs auch ergriffen hat, sie hat es aus eigener Überzeugung und dem Wunsch, zu helfen, getan. Wenn sich das als töricht erweist, ist das tragisch. Das einzige Nützliche, das wir im Augenblick tun können, ist, sie zu suchen, in der Hoffnung, dass sie aus der misslichen Lage oder der Not, in der sie sich möglicherweise befindet, gerettet werden kann. Natürlich ist Hester entschlossen, alles zu tun, was im Rahmen der Gesetze möglich ist, um Jericho Phillips zu stellen. Es ist ihre Schuld, dass er nach der Ermordung des kleinen Figgis der Schlinge entgangen ist. Ich verstehe ihr Bedürfnis, diesen Fehler zu korrigieren. Wir alle täten gut daran, uns unsere eigenen Fehler einzugestehen, statt sie zu entschuldigen, und unser Möglichstes zu tun, um für eine Besserung zu sorgen. Gelegentlich brauchen wir dabei Hilfe, wie Claudine Burroughs erkannt hat. Der Umstand, dass ihr Beitrag womöglich eher schadet als nützt, ist bedauerlich, aber er ist deswegen nicht dumm und auch nicht schlecht.«
Aus Margarets Gesicht wich alle Farbe. Perplex starrte sie ihren Mann an.
Ungerührt fuhr er fort. »Solche Ehrlichkeit erfordert Mut. Ich glaube, dass diejenigen, denen noch nie ein wirklich großer Fehler unterlaufen ist, gar nicht erfassen können, was Aufrichtigkeit einen Menschen kostet. Sie verdient es, bewundert und nicht kritisiert zu werden.«
Langsam wandte sich Margaret zu Hester um. Tränen
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