Galgenfrist für einen Mörder: Roman
traten ihr in die Augen. Dann wirbelte sie herum und stolzierte, den Kopf erhoben, den Rücken steif durchgestreckt, hinaus.
Rathbone folgte ihr nicht. »Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe selbst ein paar Fehler begangen«, sagte er mit einem schiefen Lächeln und noch leiserer Stimme als zuvor. »Phillips war einer davon, und ich weiß nicht, wie ich das in etwas Gutes verwandeln kann.«
Hester blinzelte ihn verwirrt an. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was er ihr anvertraut hatte, traf zu, aber es verblüffte sie, dass er es laut ausgesprochen hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was zwischen Rathbone und Margaret vorgefallen war oder was ungesagt zwischen ihnen geschwelt hatte, ehe es in Unvermögen oder fehlendem Mut, es in Worte zu fassen, erstickt war. Rathbone verweigerte Margaret den Beistand. Das schockierte sie, aber vielleicht war er einfach hin und her gerissen zwischen Liebe zu ihr und der Liebe zur Wahrheit.
Sie spähte ihm prüfend ins Gesicht. Wieder fielen ihr all die Schlachten ein, die sie zusammen geschlagen hatten, und zwar lange bevor sie Margaret kennengelernt hatten. Sie beide hatte mehr als Freundschaft verbunden, nämlich Verständnis, Zusammenhalt, gemeinsame Werte und eine Sache, für die sie gemeinsam kämpften. Es war ein Band, das zu fest war, um schnell zu reißen. Rathbone hatte hinsichtlich Phillips einen Fehler begangen; was zählte, war, dass er ihn zugegeben hatte. Sie vergab ihm sofort und bedingungslos.
Sie lächelte ihn an und erkannte in seinem Gesicht die ihr antwortende Wärme und unendliche Dankbarkeit.
»Wir müssen Claudine finden«, sagte sie laut. »Das hat Vorrang vor allem anderen. Und dafür dürfte niemand besser geeignet sein als Squeaky.«
Rathbone räusperte sich. »Kann ich von Hilfe sein?«
Sie schaute weg. »Noch nicht. Aber sobald wir Sie benötigen, werde ich Sie darum bitten.«
»Hester …«
»Ich werde Sie bitten! Das verspreche ich.« Bevor er noch etwas sagen konnte und sie plötzlich Angst vor dem bekam, was es sein mochte, ging sie an ihm vorbei, um Squeaky zu suchen.
12
Als Squeaky Robinson Hesters Büro verlassen hatte, kehrte er unverzüglich in sein eigenes Zimmer zurück, wo er ihrem Wunsch gemäß auf sie warten wollte. Ihr Wortwechsel mit Rathbone hatte sich angehört, als würde er ziemlich persönlich werden. Bisher hatte Squeaky keinen Gedanken daran verschwendet, aber jetzt kam es ihm so vor, als könnte hinter ihrer Freundschaft mehr stecken, als er vermutet hatte. Er hoffte, Hester würde nicht verletzt werden. Sie hatte ohnehin schon mehr als genug erlitten, weil sie sich in diese Jericho-Phillips-Affäre eingemischt hatte. Frauen hätten es wirklich viel besser und – abgesehen davon – auch bedeutend weniger Ärger, wenn ihr Herz kleiner und ihr Hirn grö ßer wäre, dachte er.
Und das galt mit Sicherheit ebenso für Claudine Burroughs. Dumme Kuh! Jetzt musste er ihretwegen losziehen und sie suchen, wohin auch immer es sie verschlagen hatte. Und je früher er das hinter sich brachte, desto besser. Als Streichholzverkäuferin verkleidet! Hatte ja noch weniger Verstand als bei ihrer Geburt! Kein Wunder, dass ihr Mann sauer war wie ein nasser Hahn. Nicht dass Squeaky sich mit Hähnen auskannte, ob nass oder trocken. Er hatte diesen Ausdruck nur einmal irgendwo gehört, und er schien die unnütze und wirkungslose Wut, die er sich bei Wallace Burroughs gut vorstellen konnte, genau zu treffen.
Jetzt lag es an Squeaky Robinson, etwas Vernünftiges zu unternehmen. Er wollte gleich damit anfangen, bevor Hester zu ihm kam und womöglich etwas anderes verlangte. So schrieb er ihr eine Nachricht und platzierte sie gut sichtbar auf den Hauptbüchern auf dem Pult. »Liebe Miss Hester, ich weiß, wo Mrs. Burroughs stecken könnte. Bin auf der Suche nach ihr. S. Robinson«.
Er kehrte kurz in sein eigenes Zimmer zurück, um in alte Kleider zu schlüpfen – die viel schlampiger und verlotterter aussahen als die Sachen, die er neuerdings immer in seinem Büro trug -, ehe er die Klinik durch die Hintertür verließ. In der Farringdon Road stieg er in einen Hansom und bat darum, zum Execution Dock gebracht zu werden. Wie er die Lage einschätzte, war das der beste Ausgangspunkt für seine Suche.
Während der Fahrt versuchte er, sich in Claudine hineinzuversetzen und zu rekonstruieren, was sie sich gedacht haben konnte. Nach allem, was Hester von Ruby in Erfahrung gebracht hatte, wollte Claudine nach Geschäften suchen, die
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