Galgenfrist für einen Mörder: Roman
noch, sie löst neunzig Prozent der Gräueltaten, mit denen sie es zu tun hat, nicht wahr?«
Walters schien förmlich zu wachsen. »Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.«
»Sie können zu Recht stolz sein. Sie leisten Ihrer Majestät und den Bewohnern von London wertvolle Dienste. Habe ich recht, wenn ich vermute, dass die Ermordung dieses Jungen tiefen Zorn in Ihnen ausgelöst hat?«
»Ja, Sir, das stimmt. Er is’ ja nich’ bloß ermordet worden. Die Brandwunden an den Armen und am Oberkörper zeigen, dass sie ihn auch noch gequält haben.« Walters’ Gesicht war aschfahl, seine Stimme heiser, als wäre seine Kehle völlig ausgetrocknet.
»Das ist wirklich schrecklich«, stimmte ihm Rathbone zu. Diese Befragung lief genau in die von ihm beabsichtigte Richtung. Walters war ein Zeuge, der tiefe Anteilnahme zeigte. »War Mr. Durban ähnlich betroffen?«, fuhr er fort. »Oder vielleicht sollte ich meine Frage etwas konkreter formulieren: Welche Reaktion zeigte er beim Anblick des toten Jungen mit aufgeschlitzter Kehle, also halb abgetrenntem Kopf, und mit deutlich auf der Haut erkennbaren Anzeichen für Folter?«
Walters zuckte bei diesen drastischen Worten zusammen. Dann schloss er die Augen, als wollte er sich noch einmal an diese entsetzliche Szene erinnern. »Er hat geweint, Sir«, sagte er leise. »Er hat geschworen, dass er den Kerl findet, der das getan hat, und dafür sorgt, dass er gehängt wird und dass auch ihm der Kopf fast vom Hals fällt. Damit er nie, nie wieder einem Kind so was antun kann.«
»Ich denke, wir alle können nachvollziehen, wie er sich in dem Moment fühlte.« Rathbone sprach leise, doch seine Stimme erreichte jeden Zuschauer in dem Saal. Er wusste, dass Richter Sullivan ihn anstarrte, als hätte er den letzten Rest seines Verstandes verloren. Wahrscheinlich überlegte er sogar, ob er Rathbone daran erinnern solle, auf welcher Seite er stand. »Und Kommandant Durban hat den Fall persönlich verfolgt«, fuhr er fort. »Mit Mr. Ormes Hilfe, haben Sie gesagt? Mr. Orme, nehme ich an, war seine rechte Hand.«
»Jawohl, Sir. Er is’ immer noch der zweite Mann an der Spitze, gleich nach dem Kommandanten.«
»Natürlich. Dieses Ereignis, das Sie hier schildern, geschah vor eineinhalb Jahren. Aber erst jetzt wird es vor Gericht verhandelt. Hatte Mr. Durban den Fall aufgegeben?«
Walters’ Gesicht lief vor Empörung rot an. »Nein, Sir! Mr. Durban hat Tag und Nacht dran gearbeitet, bis er sich um andere Sachen kümmern musste, aber auch dann hat er in seiner freien Zeit weitergemacht. Er hat den Fall nie, nie aufgegeben!«
Rathbone senkte die Stimme noch mehr, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass jedes Wort bis zu den Geschworenen und den Sitzen im Parkett drang, wo das Publikum in ehrfürchtigem Schweigen lauschte.
»Wollen Sie damit sagen, dass dieser Fall derart leidenschaftliche Gefühle in ihm auslöste, dass er ihm nach der Erfüllung seiner Pflichten auch noch seine ganze Freizeit widmete, bis dieTragödie seines vorzeitigen Todes seinem hingebungsvollen Bestreben ein Ende bereitete und es ihm nicht mehr vergönnt war, den Menschen, der diesen Jungen gequält und getötet hatte, zu stellen?«
»Ja, Sir, genau so war’s.« Walters’ Ton wurde nun trotzig. »Aber dann, als wir die Aufzeichnungen in Mr. Durbans Hinterlassenschaft gefunden haben, hat Mr. Monk die Sache weiterverfolgt.«
»Danke.« Rathbone hob die Hand, um den Polizisten an weiteren Offenbarungen zu hindern. »Mit Mr. Monk werden wir zu gegebener Zeit sprechen. Sie haben uns die Einzelheiten sehr klar geschildert. Das war alles, was ich Sie fragen musste.«
Tremayne schüttelte den Kopf. Seine angespannten Züge verrieten ein gewisses Unbehagen.
Der Richter dankte Walters und entließ ihn.
Der nächste Zeuge, den Tremayne aufrief, war der Polizeiarzt, der die Leiche des Jungen untersucht hatte. Er war ein dünner, müder Mann mit hellbraunem schütterem Haar und erstaunlich weit tragender Stimme, obwohl er immer wieder niesen und sich danach ausgiebig schnäuzen musste. In Auftritten vor Gericht war er offenbar geübt. Er hatte jede Antwort sogleich parat und schilderte den Zustand der Leiche knapp und präzise. An keinem Punkt musste Tremayne mit Ergänzungsfragen nachhelfen. Verständlich und ohne wissenschaftliche Ausdrücke beschrieb er den verunstalteten Körper des Toten, der unterentwickelt war und noch kaum begonnen hatte, erste Anzeichen der Pubertät zu zeigen. Schlicht und nüchtern äußerte er sich
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