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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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beschreiben, was unternommen wurde, um ihn aufzuklären, entweder von Mr. Durban – wofür Sie wohl Belege haben – oder von Ihnen?«
    »Jawohl, Sir.« Ormes Haltung wurde noch steifer. »Von Anfang an war klar, dass der Junge ermordet und vorher auf üble Weise misshandelt worden war.« Er sprach mit klarer, durch den gesamten Raum tragender Stimme. Kein Rascheln war zu hören, weder im Publikum noch auf der Geschworenenbank. Niemand tuschelte mit seinem Nachbarn. »Wir mussten ermitteln, wer er war und woher er kam. An seinem Körper fanden wir nichts, was uns seinen Namen verriet, aber so wie er zugerichtet worden war, musste er einem von denjenigen in die Hände gefallen sein, die Kinder an Bordelle und so was verkaufen.« Er sprach diese Worte mit ätzendem Ekel aus.
    Tremayne gab sich überrascht. »Das konnten Sie an einer Leiche erkennen?«
    Genau das hatte Rathbone erwartet, und wären ihre Rollen umgekehrt verteilt gewesen, hätte er es nicht anders gehandhabt – dem Zeugen sämtliche Informationen nach Art einer Geschichte entlocken und dazu Details, die die Geschworenen nie wieder vergessen würden. Die armen Männer würden wahrscheinlich auf Jahre hinaus Albträume davon haben. Mitten in der Nacht würden sie schweißgebadet hochfahren, das Geräusch von tosendem Wasser noch lange nach dem Aufwachen in den Ohren.
    »Jawohl, Sir, mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit«, antwortete Orme. »Viele Jungen und auch Mädchen, die halb verhungert sind. Wenn man arm ist, hat man keine Wahl. Aber die Verbrennungen, das ist was anderes.«
    »Ist es nicht möglich, dass ein armer Mann, möglicherweise in betrunkenem Zustand, aus Verzweiflung seine eigenen Kinder verletzt?«, wollte Tremayne wissen.
    »Schon, Sir«, räumte Orme ein. »Natürlich ist so was möglich. Aber arme Leute haben keine Zigarren. Es ist ja nicht schlechte Laune, die einen dazu treibt, eine Zigarre anzuzünden, daran zu rauchen, bis sie heiß ist, und dann das glühende Ende an den Körper von’nem Kind zu drücken, bis es sich durch die Haut ins Fleisch reingebrannt hat und Wunden hinterlässt, die immer wieder aufgehen und bluten.«
    Einige Zuhörer im Saal schrien auf, um sich sogleich die Hand vor den Mund zu schlagen, und einer der Geschworenen sah aus, als müsste er sich übergeben. Sein Gesicht war schweißnass und hatte einen grünlichen Farbton angenommen. Sein Nachbar hatte ihn am Arm ergriffen, um ihn zu stützen.
    Tremayne wartete einen Moment, ehe er fortfuhr.
    Rathbone begriff die Taktik. Er hätte nicht anders gehandelt. Dann schoss ihm allerdings in den Sinn, dass Tremaynes Abscheu oder Erschütterung womöglich echt war, zumindest teilweise.
    »Hat Sie das veranlasst, bestimmte Schritte zu ergreifen?«, fragte Tremayne, dem es anscheinend Mühe bereitete, seine Fassung wiederzuerlangen.
    »Jawohl, Sir. Wir haben die Orte aufgesucht, von denen wir wussten, dass Leute Jungen in seinem Alter für bestimmte Zwecke gefangen halten. Wir haben sie uns genau angeschaut und waren dabei nicht zimperlich, Sir. Er war kein Lehrling von’nem Kaminkehrer oder sonst’nem Handwerker. Das konnte man ohne Mühe an seinen Händen erkennen. Kein Ruß von den Schornsteinen, keine Schwielen vom Hanfzupfen oder von irgendwas anderem. Wenn Sie mir verzeihen, Sir, dass ich das vor so vielen Leuten sage, aber andere Teile von seinem Körper waren auch ziemlich schlimm misshandelt worden.« Seine Stimme brach, und er schwieg tief betroffen. Sein Gesicht war gerötet.
    »Dazu hat der Polizeiarzt gar keine Angaben gemacht«, bemerkte Tremayne widerstrebend. Seine Haltung war merkwürdig steif geworden, von seiner würdevollen Gelassenheit war auf einmal nichts mehr übrig.
    »Wir haben ihn nicht gefragt, Sir«, erklärte Orme. »Aber dazu muss man kein Doktor sein. Da genügt der gesunde Menschenverstand.«
    »Ich verstehe. Hat das Sie dazu veranlasst, bestimmte Orte zu durchsuchen?«
    »Wir haben es an allen möglichen Stellen flussaufwärts und flussabwärts probiert. Ist ja unsere Aufgabe, zu wissen, wo sie sind.«
    »Und konnten Sie ermitteln, woher er stammte?«
    »Nein, Sir, nicht eindeutig.«
    »Aber hier ist nur ein ›eindeutig‹ gefragt, Mr. Orme.«
    »Das weiß ich doch!« Plötzlich drang Ormes Zorn durch. Seine Emotionen waren zu schmerzhaft, um sich noch länger bezähmen zu lassen. »Wir wissen, dass Jericho Phillips sich viele Jungen gehalten hat, vor allem kleine von fünf, sechs Jahren. Er hat sie aufgelesen, wo er gerade

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