Galgenfrist für einen Mörder: Roman
über die Brandnarben auf der Haut des Jungen, die ihm nur mit dem brennenden Ende einer Zigarre oder etwas Ähnlichem hatten zugefügt werden können. Und schließlich erklärte er, dass der Schnitt durch die Kehle so brutal gewesen war, dass die Klinge bis zu den Halswirbeln durchgedrungen war und der Kopf nur noch an der Haut hing. Mit den sachlichen Worten des Arztes geschildert, wirkte das Verbrechen noch entsetzlicher, als es ohnehin schon war. Seine Aussage verriet weder Leidenschaft noch Abscheu, nur seine Augen und die starre Haltung seines Körpers, als er sich an das Geländer des Zeugenstands klammerte, sprachen davon.
Es fiel Rathbone schwer, bei diesem Mann einen Ansatz zu finden. Die Taktiken eines Anwalts konnten da nur versagen. Hier fand er sich unmittelbar mit der Realität des Verbrechens konfrontiert, als hätte der Mediziner den Geruch des Leichenhauses mitgebracht – und das Blut, das Karbol und das fließende Wasser gleich dazu. Es gab nichts, das diesen Eindruck mildern konnte.
Rathbone stand in der Mitte des Saals, beobachtet von sämtlichen Anwesenden im Saal, und fragte sich auf einmal, ob er überhaupt wusste, was er tat. Nichts von dem, was dieser Mann seiner Aussage hinzufügen konnte, würde ihm weiterhelfen. Doch wenn er es versäumte, ihm wenigstens eine Frage zu stellen, wäre es für jeden offensichtlich, dass er im Dunkeln tappte. Unter keinen Umständen durfte er vor Tremayne eine Schwäche zeigen. Sein Gegner mochte wie ein Dandy wirken, wie ein Dichter und Poet, der sich zufällig am falschen Ort aufhielt, doch dieser Eindruck täuschte. Er besaß einen messerscharfen Verstand, und so wie ein Haifisch Blut witterte, würde auch er jede Schwäche sofort wahrnehmen.
»Dieser eine Fall hat Sie offenbar zutiefst bewegt, Sir«, begann er würdevoll. »War das womöglich der beklemmendste Anblick, den Sie je erlebt haben?«
»O ja«, bestätigte der Arzt.
»Wirkte Mr. Durban damals ähnlich erschüttert?«
»Allerdings, Sir. Das wäre jeder zivilisierte Mensch gewesen.« Der Arzt blickte Rathbone mit einem Abscheu an, als hätte dieser selbst allen Anstand abgelegt. »Sein Nachfolger, Mr. Monk, war genauso schockiert, falls Sie darauf hinauswollen.«
»Das hatte ich Sie tatsächlich fragen wollen«, gab Rathbone zu. »Wie Sie sagen, das war eine entsetzliche Metzelei, noch dazu an einem Kind, das anscheinend auch schon davor hatte leiden müssen. Ich danke Ihnen.« Damit wandte er sich ab.
»Ist das alles, was Sie mich fragen müssen?«, rief der Arzt. Sein Ton war jetzt härter, fast herausfordernd.
»Ja, vielen Dank«, erwiderte Rathbone mit einem kleinen Lächeln. »Wenn mein gelehrter Freund nicht noch etwas hinzufügen möchte, steht es Ihnen frei, zu gehen.«
Als nächsten Zeugen rief Tremayne Orme auf. Dieser schritt ernst durch den Saal und verriet keinerlei Nervosität. Die Hände hielt er fest an die Seiten gepresst. Nur beim Erklimmen der Stufen zum Zeugenstand griff er nach dem Geländer.
Rathbone wusste, dass es schwierig sein würde, diesen Mann zu brechen, und dass es ihm die Geschworenen nie verzeihen würden, wenn sie ihn dabei ertappten. Zum ersten Mal riskierte er einen Blick in ihre Richtung. Und sofort wünschte er sich, er hätte sich an seinen Vorsatz gehalten, das zu vermeiden. In der Mehrheit saßen da Herren in der Mitte ihres Lebens, die gut und gerne Söhne im Alter des Opfers haben konnten. Steif und mit bleichen, unglücklichen Gesichtern thronten sie in ihrem Sonntagsstaat auf der Geschworenenbank. Die Gesellschaft hatte ihnen nicht nur die Aufgabe anvertraut, die Fakten abzuwägen, sondern auch, stellvertretend für alle anderen Bürger Grässliches zu erfahren und es im Namen aller gerecht abzuwägen. Andererseits hatten sie in diesem Prozess enorme Macht. Kein Anwalt durfte es sich mit ihnen verderben. Wenn sie spürten, dass eine Seite sie manipulieren wollte, hatte sie verloren.
»Mr. Orme«, begann Tremayne seine Befragung, die wahrscheinlich bis zur Vertagung für die Mittagspause und danach bis weit in den Nachmittag hinein dauern würde. »Sie arbeiteten mit Mr. Durban in dessen letzten Jahren zusammen und waren von dem Tag, als die Leiche des Jungen aus dem Wasser gezogen wurde, bis zu Mr. Durbans Tod letztes Jahr an seiner Seite?«
»Jawohl, Sir, das ist richtig.«
»Wir haben schon gehört, dass Mr. Durban diesen Fall mit besonderem Interesse verfolgte. Soweit Sie das aufgrund Ihrer eigenen Beobachtung wissen, könnten Sie uns
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