Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Ihnen kalt, Mr. Phillips?« Rathbone zwang sich, daran zu denken, dass dieser Mann sein Mandant war und als unschuldig zu gelten hatte, solange nicht der über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Beweis geführt wurde, dass er das ihm zur Last gelegte Verbrechen tatsächlich verübt hatte.
Etwas flackerte in Phillips’ Augen auf: Erinnerung, Furcht. »Nein«, log er. Doch dann überlegte er es sich anders. »Es is’ bloß wegen diesem Zimmer.« Seine Stimme wurde noch heiserer. »Es is’ nass. Und in meiner Zelle hör ich’s … tröpfeln.« Sein Körper wurde ganz steif. »Und ich hasse dieses Tröpfeln.«
Dennoch zog er es vor, am Fluss zu leben. Nie war er dem Klatschen der Wellen und dem Wechsel der Gezeiten fern gewesen. Erst hier, wo die Wände schwitzten und das Wasser daran herablief, konnte er seinen Hass darauf nicht mehr beherrschen. Unwillkürlich betrachtete Rathbone Phillips mit neuem Interesse, fast sogar Respekt. War es möglich, dass dieser Mann sich bewusst dazu zwang, sich seiner Phobie zu stellen, damit zu leben und sich täglich daran zu messen? Wenn das so war, verriet er eine Kraft, die nur wenige Männer besaßen, und eine Disziplin, die die meisten garantiert meiden würden. Vielleicht beruhte das meiste von dem, was er über Jericho Phillips zu wissen glaubte, auf völlig ungerechtfertigten Mutmaßungen.
»Ich werde Ihre Räumlichkeiten eingehend überprüfen«, versprach er. »Lassen Sie uns nun unser Augenmerk auf das richten, was wir bisher haben.«
Am Morgen des Prozesstages war Rathbone bestens vorbereitet. Die erregte Spannung vor der Schlacht brachte sein Inneres zum Kribbeln, verhärtete seine Muskeln, sorgte für ein flaues Gefühl in der Magengrube, brannte in ihm wie ein Feuer, das nichts und niemand sonst hätte entzünden können. Er hatte Angst, zu scheitern, war voller Zweifel, ob sein verwegener Plan tatsächlich gelingen konnte oder – wie er in seinen dunkleren Momenten dachte – überhaupt gelingen sollte. Und doch glich das Verlangen danach, es zu versuchen, einem verzehrenden Zwang. Es wäre ein bahnbrechender Erfolg in der Geschichte der Rechtsprechung, wenn er einen Freispruch für einen Mann wie Jericho Phillips erwirkte, denn die Anklage war mit Mängeln behaftet: zwar von guten Absichten beflügelt, doch von Grund auf unehrlich, von Emotionen, nicht von Fakten geleitet. Unabhängig davon, wie nachvollziehbar ein solcher Weg in diesem speziellen Fall sein mochte, würde er nur zu Ungerechtigkeit und früher oder später zum Tod eines Unschuldigen durch den Strick führen, aber das käme letztlich dem Scheitern der Rechtsprechung gleich.
Rathbone betrachtete sich im Spiegel, seine lange Nase, den sensiblen Mund, die dunklen Augen. Noch einmal trat er einen Schritt zurück, um seine Perücke und die Robe zurechtzurücken, bis alles perfekt saß. Er hatte noch etwa fünfzehn Minuten Zeit.
Nach wie vor wünschte er sich, er wüsste, wer ihm sein wirklich beträchtliches Honorar zahlte, doch Ballinger hatte sich beharrlich geweigert, es ihm zu verraten. Natürlich brauchte er das nicht unbedingt zu wissen. Ballingers Zusicherung, dass dieser Mann einen tadellosen Ruf genoss und das Geld auf ehrbare Weise erworben hatte, genügte, um alles Misstrauen zu zerstreuen. Es war pure Neugier, die Rathbone beseelte, und möglicherweise auch der Wunsch, zu erfahren, ob dahinter Fakten steckten, die mit der Schuld eines Dritten zu tun hatten und ihm vorenthalten wurden. Es war vor allem letztere Erwägung, die ihn dazu antrieb, Phillips nach seinem besten Können zu verteidigen.
Ein dezentes Klopfen unterbrach seine Gedanken. Es war der Gerichtsdiener, der ihm Bescheid gab, dass es an der Zeit war.
Der Prozess begann mit all den Zeremonien, die das Old Bailey verlangte. Den Vorsitz führte Richter Lord Sullivan, ein Mann in den späten Fünfzigern mit ansehnlicher Nase und leicht fliehendem Kinn. Eine schwere Perücke mit langen Zöpfen verbarg sein üppiges dunkles Haar, aber es waren seine borstigen Augenbrauen, die seinem Gesicht etwas Strenges, Angespanntes verliehen. Zügig führte er die Eröffnungsformalitäten durch. Die Geschworenen wurden vereidigt, die Anklage verlesen, dann begann der Anwalt der Krone, Richard Tremayne, im Namen Ihrer Majestät die Beweise für Jericho Phillips’ Schuld vorzutragen.
Tremayne, der ein bisschen älter war als Rathbone, hatte ein auffallend ungewöhnliches Gesicht, das Humor und Fantasie verriet. Im losen Hemd eines
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