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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Vielleicht stellte er sich ihm einfach als eine Tragödie von der dunkelsten und abscheulichsten Sorte dar. Jedenfalls bot er keine juristischen Raffinessen und bedeutete keine besondere intellektuelle Herausforderung, etwas, das ihm nach Rathbones Wissen sehr gefiel. Dem Anwalt schoss die Frage durch den Sinn, ob Tremayne mit Sullivan gesellschaftlich verkehrte. Sie lebten nicht weit voneinander entfernt südlich des Flusses. Waren sie Freunde, Feinde oder am Ende nicht miteinander bekannt? Was Rathbone betraf, kannte und mochte er Tremayne. Sullivan war er noch nie außerhalb des Gerichtssaals begegnet.
    Tremayne blickte nun wieder zu Orme im Zeugenstand auf. »Mr. Orme, wurden die Ermittlungen in dem Fall offiziell aufs Neue aufgenommen? Liegen womöglich neue Beweise vor?«
    »Nein, Sir. Mr. Monk hat sich nur die Unterlagen angeschaut, um zu sehen, ob vielleicht …«
    Rathbone erhob sich.
    »Ja, ja, ja!«, rief Sullivan hastig. »Mr. Orme, beschränken Sie sich bitte auf das, was Sie wissen, was Sie gesehen und was Sie getan haben.«
    Orme errötete. »Gewiss, Mylord.« Er warf Tremayne einen vorwurfsvollen Blick zu. »Mr. Monk hat mir gesagt, dass er Unterlagen über einen Fall gefunden hat, den wir nie abgeschlossen haben, und dann hat er mir Mr. Durbans Notizen über die Sache Figgis gezeigt. Er meinte, dass es gut wäre, wenn wir sie jetzt abschließen könnten. Da hab ich ihm zugestimmt. Es hatte mir ja von Anfang an schwer zu schaffen gemacht, dass wir den Mord nicht aufgeklärt hatten.«
    »Möchten Sie dem Gericht bitte erläutern, was Sie dann unternahmen? Da Sie zusammen mit Mr. Durban daran gearbeitet hatten, zeigte Mr. Monk vermutlich großes Interesse daran, Ihre Kenntnisse zu nutzen.«
    »Ja, Sir. Sehr großes.«
    Danach forderte Tremayne Orme auf, sich zur Indizienkette zu äußern. Er erkundigte sich über die Leichterschiffer, Kahnführer, Deckhelfer, Schauermänner, Fährschiffer, Schiffsausrüster, Gastwirte, Pfandverleiher, Tabakhändler, die Zeitungsverkäufer am Kai und die Kerzendreher, die Orme und Monk während ihrer endlosen Suche nach dem Zusammenhang zwischen dem kleinen Fig und Jericho Phillips’ Gewerbe auf seinem Themseboot vernommen hatten. Ihr ganzes Bemühen galt immer noch dem Versuch, eine Person zu finden, die unter Eid bezeugen konnte und wollte, welchem eigentlichen Zweck Phillips’ Boot diente und dass Fig dort gegen seinen Willen festgehalten worden war. Aber das waren alles Indizien, kleine Fäden, Hinweise aus zweiter oder dritter Hand.
    Rathbone konnte in den Gesichtern der Geschworenen Verwirrung und zu guter Letzt Langeweile lesen. Sie vermochten den Ausführungen nicht mehr zu folgen. Abscheu, Zorn, ein Gefühl von Hilflosigkeit waren weiterhin vorhanden, aber sie vermissten die Gewissheit eines Beweises. Angesichts der Komplexität des Falles hatten sie die Orientierung verloren, und da ihnen die Schwere des Verbrechens immer noch schmerzhaft bewusst war, reagierten sie zunehmend frustriert und wütend. Der Tag endete in einer Atmosphäre von Hass, sodass Phillips dicht umringt von Polizisten in das unter dem Gerichtssaal gelegene Gefängnis abgeführt wurde. Letztlich war es die Belastung durch ein ungeklärtes altes Verbrechen, die auf die Stimmung drückte.
    Am nächsten Vormittag begann Rathbone mit dem Kreuzverhör des Zeugen Orme. Er wusste genau, was er ihm zu entlocken hatte, doch gleichermaßen war ihm klar, dass er es unbedingt vermeiden musste, die Geschworenen gegen sich aufzubringen. Deren Mitgefühl galt voll und ganz dem Opfer und den Polizisten, die ihr Möglichstes versucht hatten, dem Kind wenigstens im Nachhinein so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Anwalt stand in der Mitte zwischen Zeugenstand und Zuschauergalerie, sorgfältig darauf bedacht, konzentriert und zugleich entspannt zu wirken, als hätte er eine gewisse Ehrfurcht vor dem Anlass, identifizierte sich aber nicht mit der Maschinerie der Justiz, sondern mit Orme.
    »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie es mit vielen herzzerreißenden Tragödien zu tun haben, Mr. Orme«, sagte er leise. Er wollte die Geschworenen zwingen, angestrengt zu lauschen, um so ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen. Jeder Einzelne sollte sich ernst, bedrückt, ja persönlich angesprochen fühlen, als wäre er allein mit dem Grauen und der Bürde, die es bedeutete. Dann würden sie Durban verstehen und nachvollziehen können, warum Monk denselben Weg beschritten hatte. Freilich hatte

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