Galgenfrist für einen Mörder: Roman
aufgewachsen. Durban war der Gute, Phillips der Böse. Und das ist er immer noch. Da mussten sie sich doch hassen, oder etwa nich’?«
Darauf erwiderte Hester nichts mehr. Ihre Gedanken wirbelten fieberhaft durcheinander: Lügen und Wahrheiten, Demütigungen und Erfolge, Licht, Angst und drängende unbeantwortete Fragen.
Sie nahm die blutgetränkte Gaze und die alten Leinenbinden und legte beides in den Korb für die Schmutzwäsche.
7
Ein weiteres Mal studierte Monk Durbans Aufzeichnungen, fand aber nichts, was ihm nicht schon längst bekannt war. Viele Seiten enthielten nur ein, zwei Wörter, Erinnerungen an eine Gedankenkette, die jetzt für immer verloren war. Der Einzige, der daraus vielleicht noch einen sinnvollen Hinweis entnehmen konnte, war Orme, doch bisher hatte er aus Treue zu Durban zu allem eisern geschwiegen.
Zögernd und zutiefst niedergeschlagen hatte Hester Monk berichtet, was sie von der Hure Mina über Jericho Phillips erfahren hatte. Und ganz zum Schluss hatte sie mit kreidebleichem Gesicht hinzugefügt, dass Durban in derselben Gegend aufgewachsen war. Die ganze Geschichte vom Schulmeister und der glücklichen Familie in einem Dorf im Themsedelta war nichts als ein Traum, geschaffen aus dem Hunger nach einem Leben, das er nie gehabt hatte. Hester hatte die Hände ineinander verknotet und die Tränen weggeblinzelt, als sie Monk das erzählte.
Monk hatte nichts davon glauben wollen. Was galten denn schon eine Lücke im Namensverzeichnis der Schule, ein fehlender Eintrag im Gemeinderegister, das Wort einer verwundeten Hure im Vergleich zu einem Mann wie Durban, der ein Vierteljahrhundert bei der Wasserpolizei gedient hatte? Ein Mann, der sich die Liebe und Treue seiner Männer, den Respekt seiner Vorgesetzten und die gesunde Angst kleiner und großer Verbrecher flussaufwärts und -abwärts verdient hatte.
Und doch musste Monk ihr schließlich glauben. Er fühlte sich deswegen schuldig, als hätte er selbst einen Verrat begangen. Kehrte er denn nicht einem Freund den Rücken, und das in einer Zeit, in der niemand anders da war, der ihn verteidigte? Was würden seine Männer nun über ihn selbst sagen? War er für sie einer ohne Vertrauen zu den anderen, ohne Loyalität, einer, der immer zuerst an sich dachte? Oder ein Realist, der wusste, dass selbst die Besten ihre Schwächen hatten, ihre Zeiten der Versuchung und Anfälligkeit, ihre Fehler? Lag größere Treue darin, einen Menschen mit all diesen Makeln zu akzeptieren, oder war das eine Form der Flucht vor der Notwendigkeit, zu ihm zu stehen, sobald es unangenehm wurde?
So hätte Monk noch ewig mit sich selbst debattieren können, ohne je eine Lösung zu finden. Doch die Zeit drängte. Er musste die Suche nach der Wahrheit intensiver betreiben und damit aufhören, irgendwelche Schwierigkeiten als Ausrede für Drückebergertum vorzuschieben. Er legte die Unterlagen beiseite und beschloss, Orme zu befragen.
Doch erst am späten Vormittag ergab sich eine Möglichkeit, ungestört miteinander zu sprechen. Zuvor hatten sie zur Zufriedenheit aller einen Einbruch in einem Lagerhaus geklärt und die Diebe verhaftet. Orme stand auf Höhe der Old Gravel Lane auf dem Kai in der Nähe der King Edward Stairs. Monk beglückwünschte ihn zur Verhaftung und zur Bergung der Stoffballen.
»Danke, Sir!« Orme freute sich. »Die Männer haben aber auch ausgezeichnete Arbeit geleistet.«
» Ihre Männer«, merkte Monk an.
Ormes Haltung wurde ein wenig steifer. »Unsere Männer, Sir.«
Monk lächelte. Dennoch fühlte er sich angesichts seiner Aufgabe sehr unwohl, aber sie duldete keinen Aufschub. Er mochte Orme und war auf seine Treue angewiesen. Mehr noch, wie er sich selbst eingestand, wollte er seinen Respekt. Freilich hatte Menschenführung nichts mit persönlichen Wünschen zu tun. Und er musste sich kurzfassen. Einen besseren Zeitpunkt würde es heute nicht mehr geben; vielleicht würden sie heute für nichts mehr Zeit finden.
»Wie gut kannte Durban Phillips, Mr. Orme?«
Orme sog scharf die Luft durch den Mund ein, um dann Monks Gesicht zu studieren. Er zögerte.
»Ich habe bereits eine recht gute Vorstellung«, ließ ihn Monk wissen. »Ich würde nur noch gern Ihre Sicht der Dinge hören. War Figs Tod der Anfang des Ganzen?«
»Nein, Sir.« Orme erstarrte. Seine Haltung drückte nicht etwa Frechheit aus – auch seine Miene hatte nichts Herausforderndes -, er schien sich lediglich gegen etwas zu wappnen.
»Wann fing das an?«
»Das weiß ich
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