Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf die Wunde. Die Blutung war größtenteils gestillt, nur aus den Nähten sickerte noch ein bisschen Blut. Trotzdem sah die Wunde übel aus und musste große Schmerzen bereiten. Während Hester das getrocknete Blut abtupfte, eine blutgetränkte Mullbinde ersetzte und die Wunde an den Rändern mit ein paar Stichen etwas mehr versiegelte, redete sie weiter, einerseits, um Mina noch mehr Informationen zu entlocken, aber auch, um sie von den Schmerzen abzulenken. »Bestimmt haben Sie Seiten von ihm kennengelernt, die sonst niemand mitbekommt«, mutmaßte sie.
»Ach, da bin ich nich’ die Einzige.« Mina schien das ungemein amüsant zu finden. »Ich kenn ihn bloß’n bisschen länger. Aber so dämlich, dass ich das rausposaune, bin ich nich’. Er will nich’ an die Vergangenheit erinnert werden. Das hört er überhaupt nich’ gern. Bettelarm war er, hat ständig gefroren und gehungert. Nur an Hieben hat’s nie gefehlt. Seine Mama, das war’ne ganz Böse. Hatte ein Gemüt wie die Ratten, die manchmal aus der Kanalisation gekrochen kommen. Ging auf jeden los.«
»Und sein Vater?«, fragte Hester.
Mina lachte. »Der is’ von’nem Schiff gehüpft und gleich wieder an Bord gegangen«, antwortete sie trocken und kniff furchtsam die Augen zusammen, als ihr Blick auf die Wunde fiel. »Phillips hat immer am Fluss unten gelebt, fast schon im Wasser. Kein Wunder, dass dem armen Kerl immer kalt war. Und jetzt kriegt er Zustände, wenn er’s irgendwo tropfen hört.«
»Aber er lebt auf einem Boot!«, rief Hester verständnislos.
»Stimmt. Verrückt, was?«, pflichtete ihr Mina bei. »Ich hab mal’nen Kerl gekannt, der’ne Mordsangst vor Ratten hatte. Hat sogar von ihnen geträumt und hat beim Aufwachen geschwitzt wie’ne Sau. Manchmal hab ich ihn schreien hören. Da konnte einem das Blut in den Adern gefrieren! Und was hat er gemacht? Hat sich’ne Ratte in’nem Käfig gehalten, mitten in seinem Zimmer! Konnte das verdammte Vieh mit seinen blöden Krallen rumkratzen und quietschen hören.« Sie schüttelte sich unwillkürlich, sodass Hester die Schere vorsichtshalber hochhielt.
»Glauben Sie, dass es sich bei Jericho Phillips und Wasser genauso verhält?«, fragte sie neugierig. In ihr formte sich das Bild eines Mannes, der sich zwang, mit seinen Ängsten zu leben, bis er dagegen immun wurde und nicht mehr in Panik geriet. Das war die höchste Form von Kontrolle. In mancherlei Hinsicht war es vielleicht sogar das Furchterregendste an diesem Mann.
Sie begann, die Wunde so sanft wie nur möglich wieder zu verbinden. Ihre Gedanken weilten unterdessen bei dem gequälten Kind, das Phillips einst gewesen war, mit seiner Angst vor Kälte und tropfendem Wasser, ein Kind, das zu einem grausamen Mann herangewachsen war, der sich gegen jede Schwäche gestählt hatte, vor allem gegen die eigene. Sie war sich nur nicht sicher, ob sie Mitleid mit ihm haben sollte oder eher nicht. Hatten die Jungen, die er gefangen hielt, es warm?
»Haben Sie Angst vor ihm?«, fragte sie Mina, als sie beinahe fertig war.
Mina hatte die Augen fest geschlossen. »Nö! Ich halt einfach den Mund, tu, was er will, und er zahlt gut. Mich hasst er ja nich’.«
Hester brachte die letzten Stiche an, damit der Verband sich nicht von selbst aufwickeln konnte. »Wen hasst er dann?«, wollte sie wissen.
»Durban.«
»Er tat doch nur seine Pflicht, wie alle Mitglieder der Wasserpolizei. Sie können übrigens die Augen öffnen. Ich bin fertig.«
Mina sah sich das Werk voller Bewunderung an. »Machen Sie auch Hemden und so was?«, fragte sie.
»Nein. Geschickt bin ich nur mit Haut und Verbandszeug. Sonst tauge ich höchstens zum Ausbessern.«
»Sie reden, wie wenn Sie Bedienstete hätten, die Ihnen jeden Handgriff abnehmen.«
»Die hatte ich früher einmal.«
»Schwere Zeiten, hm?« Minas Ton verriet Mitgefühl. »Wollen Sie jetzt Geld für das da haben?« Sie deutete auf den wunden Arm. »Ich hab leider keines. Aber wenn ich wieder welches habe, zahl ich Ihnen alles.«
»Nein, ich möchte kein Geld, danke. Wir helfen gern.« Hester wechselte das Thema. »Hat Phillips speziell Durban so gehasst? Ich glaube, Durban hat ihn erbarmungslos verfolgt.«
Mina nickte. »Das können Sie laut sagen. Und wie die zwei sich gehasst haben!«
Erneut überlief es Hester eiskalt. »Warum?«
»War bei ihnen wohl ganz natürlich.« Mina zuckte leicht mit der unverletzten Schulter. »Sind schließlich zusammen
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