Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
nachgeholfen?
Mein nächster Schritt lag auf der Hand.
16
»Wohin, mein Freund?«, wollte der Taxifahrer wissen.
»Kennen Sie die Polizeiwache in der Tobago Street?«
Vom Fahrersitz drang ein tiefer Seufzer herüber. »In- und auswendig. Hab mein Schwiegervadda, den alten Säufa, da mehr als eima gegen Kaution rausgeholt ...«
In den folgenden zehn Minuten der Fahrt breitete er seine Probleme mit der buckligen Verwandtschaft in allen Einzelheiten vor mir aus. Höflich, wie ich war, warf ich hin und wieder ein Tsts oder Oh je! ein, konzentrierte mich in Wirklichkeit aber auf die schönen Stadtstraßen, die ich zuletzt vor einer halben Ewigkeit in meiner schönen schwarzen Uniform abgeklappert hatte. Ich kurbelte sogar das Fenster hinunter, um die Luft zu schnuppern und die Gerüche und Geräusche aufzunehmen.
Hier gab es keine so schlimmen Kriegszerstörungen wie in London. Die deutschen Fliegerstaffeln hatten große Mühe gehabt, bis hierher vorzudringen. Keine ihrer beängstigenden V1- oder V2-Vergeltungswaffen hatte es weiter als bis ins nördliche London geschafft. Trotzdem taten sie ihr Möglichstes, um den Werften und Munitionsfabriken am Clyde schwere Schläge zu versetzen. Einige fehlgeleitete Bomben waren in den Wohngebieten im Zentrum Glasgows explodiert.
Doch der Ort, der wirklich schwere Schäden davongetragen hatte, war die kleine Stadt Clydebank gewesen. Im März 1940 füllte die deutsche Luftwaffe ihre Treibstofftanks bis zum Rand und schwärmte quer über die Nordsee aus. Vielleicht war das mörderische Dröhnen ihrer Bombengeschwader sogar bis an meine Ohren vorgedrungen, während ich mit der unglückseligen British Expeditionary Force auf einem Feld in Frankreich in Stellung lag. Die Bomber schafften es bis nach Glasgow, verfehlten die Schiffswerften jedoch und radierten stattdessen eine ganze Ortschaft aus. Von rund 12.000 Gebäuden blieb nur eine Handvoll unversehrt.
Hunderte unschuldiger Menschen – vor allem Frauen und Kinder – waren mit den Häusern in die Luft gesprengt oder unter den Trümmern begraben worden. Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich und meine Kameraden von der 51. Highland Division hätten es der deutschen Armee heimgezahlt. Aber ganz so lief es nicht, jedenfalls nicht damals bei dieser Reinkarnation der 51.
Gewaltsam riss ich mich aus meinen Erinnerungen und wandte mich wieder der Gegenwart zu. Es kam mir so vor, als wäre die Zeit da draußen vor dem Taxifenster stehen geblieben. Nach wie vor drückten sich Gruppen von Männern mit Schirmmützen an den Straßenecken herum, zogen an ihren Zigaretten und warteten darauf, dass die Werften Jobs für sie aus dem Ärmel schüttelten. Ungelernte, Gelegenheitsarbeiter, arbeitslose Kriegsheimkehrer, deren Hoffnung von Tag zu Tag mehr sank. Die Szene strahlte etwas Verhängnisvolles aus, das mich an die 30er-Jahre erinnerte, an die Zeit der Weltwirtschaftskrise und der Hungermärsche. Wo blieben die Lorbeerkränze für all diese Menschen?
In den mit drei Messingkugeln gekennzeichneten Pfandleihen liefen die Geschäfte dafür umso besser. Jeweils mittwochs versetzten die Malocher die Eheringe ihrer Frauen, um die Zeit bis zum Freitag, dem Zahltag, zu überbrücken. Am Samstag lösten sie die so schmählich missbrauchten Liebespfänder dann wieder aus.
Ihre Wochenend-Ehefrauen, schon jahrelang an Kummer gewöhnt, trugen zum Teil immer noch dicke Schottenkleidung. Modische Trends gingen an ihnen ebenso vorbei wie die Tatsache, dass die Tage länger und wärmer wurden. Manche der jüngeren Frauen, vor allem die Mädels aus dem Hochland, hatten ihre Kleinen wie Indianerbabys mit in die Tartantücher eingewickelt, sodass nur die rosigen, pausbäckigen Gesichter herausschauten.
Plötzlich schoss aus einem Gebäudeeingang ein Schwarm von Kindern mit nackten Knien und löchrigen Unterhemden auf die Straße. Ihr Anführer lief mit so ausbalancierten Schritten, als wäre er ein schottischer Außenstürmer, der im Hampden Park die gesamte Verteidigung der englischen Nationalmannschaft austanzen wollte. In der ausgestreckten rechten Hand hielt er eine Eisenstange, mit der er einen schwarzen Metallreifen vor sich hertrieb. Dieses Spiel mit Reifen, Stange und Schlinge war hier überaus beliebt. Auch ich hatte mir in meiner Kindheit aus dem Rad eines alten Kinderwagens einen solchen Zeitvertreib gebastelt, indem ich Speichen und Schlauch entfernte. Als Antrieb benutzten wir damals einen selbst geschnitzten Holzstock. Das Rad dieses
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