Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
Jungen stammte sicher von irgendeinem Schrottplatz der Werften. Es sah aus, als hätte ein Schmied ein Ende der Schlinge durch einen winzigen Ring mit dem Metallreifen verbunden.
Das Beste an diesem Spielzeug war der ohrenbetäubende Lärm, wenn der Metallreifen über das Kopfsteinpflaster ratterte und eine Bande johlender Rabauken anfeuernd hinterherlief.
Während ich beobachtete, wie das kreischende Rudel hinter einem Gebäude verschwand, wünschte ich mir, noch einmal so jung zu sein und mit diesen Kindern durch die Straßen zu toben – noch einmal ganz von vorne anfangen zu können. Genau solche Gedanken hatten mich schon den ganzen Winter über in London gequält. Immer wieder spielte ich dann entscheidende Situationen aus meinem Leben durch und dachte darüber nach, wohin mich das Schicksal bei abweichenden Entscheidungen möglicherweise geführt hätte. Fast überall musste es erträglicher sein als in dieser engen, kleinen Einzimmerwohnung in einer ausgebombten Stadt voller fremder Menschen, in der mir lediglich mein alter Kumpel Johnnie Walker Gesellschaft leistete.
Ruckelnd kam das Taxi vor der Polizeiwache mit dem angrenzenden Gefängniskomplex in der Tobago Street zum Stehen. Auch hier hatte sich nichts verändert. Den plumpen, kastenförmigen Bau aus grauem Sandstein hatten einst die Viktorianer errichtet, jetzt hielten ihn Vandalen besetzt.
»Se sin doch nich bei de Polizei, oda?« Offensichtlich bereute der Taxifahrer seine vertraulichen Ausführungen jetzt.
»Wie bitte? Nein. War ich früher mal, jetzt nicht mehr.« Ich bezahlte ihn und stieg aus.
Während ich die von der Sonne aufgeheizte Straße entlangging, fühlte ich mich um mehr als zehn Jahre zu meinem ersten Tag hier, im Jahr 1933, zurückversetzt. Auch damals schien die Sonne, meine nagelneue Uniform duftete nach warmer Wolle. Ich hatte gerade meine Ausbildung beendet, rückte entschlossen meinen Schlips zurecht, vergewisserte mich, dass meine Polizeimütze richtig auf dem Kopf saß, und marschierte auf das große Holztor zu.
Auch jetzt zog ich mechanisch mein Jackett glatt, zupfte den Filzhut zurecht, überquerte hastig die Straße und betrat das Gebäude.
Die Zeit war drinnen wie draußen stehen geblieben. Immer noch derselbe massive vergitterte Empfangstresen, nach wie vor besetzt von einem Polizisten, der geschäftig etwas in sein Protokollbuch kritzelte. Nachdem er kurz aufgesehen hatte, wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Doch gleich darauf hob er erneut den Blick und musterte eingehend mein Gesicht.
»Da soll mich doch einer ... Verdammte Scheiße, wenn das nicht Euer Hochwohlgeboren Kriminalmeister Douglas Brodie ist ...«
»Da soll mich doch einer? Leider bist du nicht mein Typ, Alec. Und inzwischen bin ich nur noch Brodie. Wie läuft’s bei dir denn so?«
Na ja, das konnte ich mit eigenen Augen sehen. Die drei weißen Streifen an seinem Ärmel blitzten mir entgegen. Er schien in den letzten zwei Jahren die Karriereleiter hinaufgeklettert zu sein. Als schlaksiger Kerl mit auffällig kantigem Kinn war er hier Anfang 1939 frisch rekrutiert eingetroffen, etwa sechs Monate, bevor ich den Polizeidienst quittiert und mich zum Militärdienst gemeldet hatte. Alec zog hingegen die Laufbahn als Beamter vor und saß den Krieg in der Tobago Street aus – für ihn offenkundig die richtige Entscheidung. Vielleicht auch für mich? Dann säße ich heute als Kriminalinspektor in einem geräumigen Büro.
Wir stellten einander ein paar unbeholfene Fragen, erkundigten uns, wie es dem anderen in den vergangenen Jahren ergangen war, ohne den Antworten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Doch plötzlich wurde Alec Jamieson, Wachtmeister Alec Jamieson, rot und fragte: »Du bist doch wegen Donovan hier, dem Kerl, der die kleinen Jungs ermordet hat, stimmt’s?«
»Er wurde nur für einen einzigen Mord verurteilt, Alec. Aber egal. Hat man euch meinen Besuch angekündigt?«
»Ja. Die warten da hinten auf dich.«
Alec hob die schwere Holzschranke an, ließ mich durch und befahl einem jungen Polizisten, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, den Dienst am Empfang zu übernehmen. Als wir uns auf dem mit Linoleum ausgelegten Fußboden den hinteren Dienstzimmern näherten, quietschten meine Stiefel genau wie früher. Das Sonnenlicht hatte sich in einzelnen Flecken auf dem Fußboden gesammelt und wanderte nach und nach die Wände hoch, an denen gerahmte Porträts ehemaliger Kriminalhauptkommissare hingen – eine beeindruckende
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