Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
es noch zu früh in der Saison und für Geschäftsreisende zu spät am Tag. Mir konnte das nur recht sein. Ich genoss die Klimaveränderung und die kurze Verschnaufpause, die mir Gelegenheit gab, das Chaos in meinen Gedanken zu entwirren.
Wieder einmal hatte ich eine Entschuldigung dafür gefunden, meinen Besuch bei Fiona aufzuschieben. Was war nur aus dem Krieger geworden, der seine Kompanie vor nicht allzu langer Zeit in die Schlacht geführt hatte? Jetzt zog er bereits beim Gedanken an die Begegnung mit einer Verflossenen feige den Schwanz ein!
Beiläufig strich ich über die bereits verschorfte Stichwunde an der Stirn und fragte mich, was die beiden Gangster, die mich in der Toilette des Pubs angegriffen hatten, wohl gewusst haben mochten. Wieso waren sie überhaupt auf mich losgegangen? Reagierten sie auf jeden Fremden so, der sich in ihr Revier vorwagte und neugierige Fragen stellte? Nach dem Motto »Nett dich kennenzulernen, und jetzt friss Scheiße, Arschloch«? Oder hatte sie jemand vor einem aufdringlichen Fremden gewarnt? Denkbar.
Ich musste unbedingt ihren Boss kennenlernen – Dermot Slattery – und herausfinden, was er wusste. Falls ich die Familie Reid aufstöberte und sie davon überzeugte, mir zu helfen, konnte ich bereits am Samstagnachmittag wieder in Glasgow sein und meine Fühler ausstrecken, um mich abends mit dem derzeitigen König der Messerstecher zu treffen. Die Zeit lief uns davon. Wir schrieben bereits den 5. April und mussten bis zum 15. April in Berufung gehen. Uns blieben also maximal zehn Tage.
Als die Fähre am Pier von Brodick anlegte, schlurfte ich zusammen mit der Handvoll anderer Passagiere von Bord, hinaus auf die nasse Landungsbrücke. Es regnete nicht mehr. Jetzt brach sogar die Sonne des späten Nachmittags durch die Wolken. Ein gutes Omen?
Am Deich entlang hielt ich auf die kleine Ortschaft zu. Am anderen Ende der Bucht, von vorbeiziehender Bewölkung immer wieder verdeckt, konnte ich vage Brodick Castle ausmachen. Mir fiel ein, dass mein Vater mir die Burg während unseres einzigen gemeinsamen Tagesausflugs in meinem früheren Leben gezeigt hatte.
Ich atmete tief ein und aus und genoss das Aroma von Seetang und Salzwasser, das in der Luft hing. Vielleicht sollte ich im Laufe des Sommers hierher zurückkehren und lange Spaziergänge am Ufer entlang und zu den Hügeln hinauf unternehmen. Auch meinem Bein würde das guttun. Und meine vom Leben in London blassen Wangen würden endlich mal ein bisschen Farbe bekommen. Möglicherweise hatte auch Sam von ihrem Vater die Wanderlust geerbt? Ein seltsamer und eigentlich unzulässiger Gedanke. Schließlich war sie in erster Linie eine überkorrekte Rechtsanwältin. Aber das Abendessen mit Fish and Chips hatte eine andere Facette von ihr enthüllt. Allerdings würde es sicher nicht leicht sein, auch bei anderen Gelegenheiten ihre eisige Fassade zu knacken.
Heute war es ziemlich ruhig im Dörfchen. Nur wenige der Bed-and-Breakfast- Pensionen hatten ihre Werbetafeln ins Fenster gehängt. Sie hoben sich ihre Bemühungen für den bevorstehenden Ansturm der Chips knabbernden und Eis leckenden Klientel während des Glasgow Fair auf. Familien mit geringem Budget nutzten die traditionell arbeitsfreien Marktfeiertage im Juli gern zu verlängerten Wochenenden auf der Insel und suchten sich dann preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten.
Längeren Urlaub auf Arran machten vor allem wohlhabendere Leute – mal abgesehen von den Touristen, die in Zelten auf den Campingplätzen oder in mitgebrachten Wohnwagen übernachteten. Wie Magneten zogen die gepflegten viktorianischen Häuser und Hotels die höheren Angestellten der Fabriken und Versicherungen samt deren Ehefrauen an – Menschen, die der nächsten Beförderung und einer Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern in Helensburgh entgegenfieberten. Dieses feine Seebad an der Nordküste des Firth of Clyde und der Ostküste des Gare Loch lag gerade so weit von Glasgow entfernt, dass man noch gut hin und her pendeln konnte.
Vor einem der großen Häuser – es bot einen Ausblick auf die Uferstraße und die Küste von Ayrshire – baumelte ein »Zimmer frei«-Schild lässig im Wind, als wollte es sagen: Mir doch egal, ob ich jemanden anlocke. Ich überquerte die Straße, ging hinein und sicherte mir ein Zimmer mit Meeresblick für den unschlagbar niedrigen Vorsaisonpreis von einer Crown und sechs Pence. Der einzige Nachteil bestand darin, dass ich mir ein Bad mit anderen Gästen teilen musste.
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