Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
die andere Seite zu vertreten. Sozusagen als Ausgleich.«
»Darf ich fragen, was passiert ist? Ich meine ...«
»Wieso ich jetzt Waise bin, Mr. Brodie?«
Meine große Klappe mal wieder, verdammt. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe, Sam. Es geht mich ja wirklich nichts an. Vergessen Sie’s einfach.«
Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Gleich darauf hörte ich Wasser laufen. Wollte sie etwa schon zu Bett gehen? Doch sie kam zurück, trocknete ihre Hände ab und warf mir einen warmen, feuchten Waschlappen und ein kleines Gästehandtuch zu.
Während ich meine fettigen Finger säuberte, ging sie zum Servierschrank hinüber, öffnete die vordere Tür, holte eine Flasche Scotch und zwei geschliffene Whiskygläser heraus und stellte alles auf den großen Tisch. Danach kehrte sie zum Sideboard zurück und zog eine Schublade auf. Was sie herausnahm, sah auf den ersten Blick wie ein Fotoalbum aus. Sie legte es neben die Whiskyflasche, setzte die Brille auf, schlug den Band auf den hinteren Seiten auf und schob ihn zu mir hinüber.
Das Foto zeigte ein lächelndes Paar mittleren Alters an einem See. Beide trugen derbe Knickerbocker aus Tweed, dicke Kniestrümpfe, Wanderstiefel und Rucksäcke. Die Frau wirkte wie eine ältere Version von Sam. Die gleichen wachen, intelligenten Augen, die den Betrachter herausfordernd ansahen. Das feine weiße Haar trug sie zurückgebunden. Der Mann – unverkennbar Sams Vater – hatte ihr das ausgeprägte Kinn und den Mund vererbt.
»Das war im Sommer 1935, auf einer Wanderung am Loch Lomond entlang – dort ist mein Vater im Urlaub immer am liebsten gewandert. Ich habe unterdessen hier die Stellung gehalten. Einen Tag nach dieser Aufnahme wollten sie mit einem Boot nach Inchmurrin Island übersetzen. Unterwegs kam ein heftiger Sturm auf. Man hat die beiden erst zwei Tage später gefunden, zusammen mit dem Bootsbesitzer und seinem neunjährigen Sohn. Alle waren ertrunken. Unvorstellbar, dass man auf einem Ausflugsboot in einem Binnensee einfach so ertrinken kann, nicht? So ein zufälliger, idiotischer, völlig überflüssiger Tod.« Sie nahm die Brille ab und wischte sich über die verräterisch nassen Augen.
»Das tut mir leid«, sagte ich.
Sie nickte. »Mir auch, Brodie, mir auch. So eine verdammte Verschwendung von Leben. Und jetzt gehört all das hier mir.« Sie deutete mit der Hand einmal rund ums Zimmer. »Entschuldigung, ich hätte es gar nicht erzählen sollen. Schließlich ist das ja nicht Ihr Problem.«
»Hören Sie, Sam, ich war derjenige, der gefragt hat ...«
»Halten Sie den Mund, Brodie, und gießen Sie uns Scotch ein. Wir haben noch einiges vor uns.«
19
Wir schafften es, noch einen Anstandsrest Whisky in der Flasche zu lassen, weshalb uns wohl auch der Brummschädel am nächsten Morgen erspart blieb.
Zusammen mit Sam ging ich in die Kanzlei, um auf Neuigkeiten von unserem Agenten auf der Insel Arran, dem Geistlichen, zu warten. Ich nutzte die Zeit, um die Fahrpläne der Eisenbahn und der Fähren zu studieren. Kurz vor Mittag kam Samantha aufgeregt zu mir ins Vorzimmer. »Sieht so aus, als hätten wir ins Schwarze getroffen«, erklärte sie. »In Lamlash ist im Januar eine neue Familie angekommen, eine Mutter mit vier Kindern. Sie haben dort eine Wohnung gemietet. Der Priester wird Sie zu ihnen bringen. Ich hab ihn gebeten, gegenüber der Familie nichts zu erwähnen, bis Sie vor Ort sind. Er erwartet Sie mit der ersten Fähre morgen früh.«
Ich nahm den Zettel entgegen, auf dem Sam die Fährzeiten notiert hatte. »Da hat Cassidy ja wirklich ein Ass aus dem Ärmel gezogen. Wir können nur hoffen, dass es tatsächlich die richtigen Leute sind. Und dass wir sie dazu überreden können, vor Gericht auszusagen. Vor allem, dass sie etwas Relevantes vorbringen können.«
»Wir müssen nach jedem Strohhalm greifen, Brodie. Das muss uns einfach einen Ansatzpunkt liefern!«
Ich nickte und bereute zugleich, dass ich ihr Hochgefühl gedämpft hatte, was ihren Augen deutlich anzusehen war.
»Wissen Sie, wir könnten die Sache ja auch ein bisschen beschleunigen«, sagte ich deshalb. »Ich dürfte gerade noch die letzte Fähre erwischen, die von Ardrossan ablegt. Dann wäre ich bereits heute gegen 19 Uhr in Brodick. Dort kann ich übernachten und dann gleich in der Frühe den Bus nach Lamlash nehmen. Dadurch gewinnen wir einen halben Tag.«
Sie nickte. »Wunderbar. Hier ist ein kleiner Zuschuss zu den Reisekosten.« Sie reichte mir eine große weiße Note: fünf
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