Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
Allerdings stellte sich heraus, dass es gar keine anderen Gäste gab! Das Frühstück kostete lediglich einen Shilling extra. Dafür würde man mir Tee und Toast servieren, so viel ich wollte, außerdem Rührei mit gebratenen Würstchen. Perfekt.
Den Argwohn der vollbusigen Zimmerwirtin – sie fand es seltsam, dass ich kein Gepäck dabeihatte – zerstreute ich, indem ich auf meine Manteltaschen verwies und ihr erklärte, ich müsse gleich am nächsten Morgen zu einer Besprechung nach Lamlash und danach wieder zurück nach Glasgow.
Im Ortszentrum, wenn man es denn so nennen wollte, gab es ein (noch geöffnetes) Café, außerdem einen Souvenirladen, einen Zeitungskiosk, eine Metzgerei und ein Fischgeschäft, die allesamt vergeblich auf Kundschaft warteten. Ich überlegte kurz, ob ich Sam einen Felsstein aus Arran mitbringen sollte, doch er sah wie Vorkriegsware aus. Wie am Vortag bestand mein Abendessen aus Fish and Chips, nur lenkte mich diesmal niemand davon ab. Samantha Campbells scharfe Zunge und ihr ebenso scharfer Verstand fehlten mir; ich vermisste sogar die nüchterne Geste, mit der sie ihr Haar immer hinter die zierlichen Ohren zurückschob.
Ich kehrte früh am Abend in die Pension zurück, schlief gut und bestieg gleich morgens mit einem von Würstchen und Buttertoast gut gefüllten und aufgewärmten Bauch den Bus nach Lamlash. Es war bereits warm, und als wir die schmale Asphaltstraße entlangtuckerten, stieg Dampf von den feuchten Straßen auf. Entlang der zerklüfteten Küste hielt der Bus auf Lamlash zu. Mühsam keuchte er den Hügel hinauf, konnte dafür aber praktisch im Leerlauf in die nächste Bucht hinuntersausen. Durch das dichte Laubwerk der Bäume, die die Straße säumten, erhaschte ich hin und wieder einen kurzen Blick auf die sichelförmige Bucht von Lamlash und das Dorf. Vor der Küste lauerte ein unförmiger Felsbrocken: Holy Island. Die kleine Insel wirkte wie ein perfekter Rückzugsort für Leute, die sich vor herumschnüffelnden Polizisten oder übereifrigen Reportern verschanzen wollten.
Der Bus kam eine Haltestelle vor dem Ortszentrum zum Stehen, ganz in der Nähe der katholischen Kirche, wie mir der Fahrer versicherte. Obwohl die Nordflotte der Royal Navy im Krieg ihr Domizil in der Bucht von Lamlash bezogen hatte, war sie kleiner als die Bucht von Brodick und nicht so gut auf Urlaubsverkehr vorbereitet. Ein Großteil des Dorfes bestand aus ordentlich aneinandergereihten Fischerhäuschen mit gepflegten Vorgärten. Den hinteren Ortsteil nahm die protestantische Kirche für sich ein.
Ich stieg aus, lief an der Uferpromenade entlang, setzte mich auf eine Bank, die eine schöne Aussicht auf den Sandstrand bot, holte eine Zigarette heraus und sah dem Plätschern der Wellen zu. Schon seit Jahren hatte ich nicht mehr aus bloßem Vergnügen aufs Meer hinausgeschaut. Früher war ich in Troon gern durch die Dünen spaziert oder mit nackten Füßen durch das flache Wasser gerannt. Endlich einmal empfand ich innere Gelassenheit, und das lag nicht nur am Nikotin. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie erschöpft ich war und wie sehr mir alles auf die Nerven ging. Der Krieg und sein bitteres Nachspiel. London und der nicht recht fassbare Groll, den die zerstörte Stadt ausstrahlte – eine Stadt, in der die Hoffnungen genauso beschränkt waren wie die Lebensmittelrationen.
Während ich den zänkischen Seemöwen lauschte, fragte ich mich, ob ich nicht der Metropole den Rücken kehren und Zuflucht auf Arran suchen sollte. Ich könnte hier vielleicht ein kleines Boot kaufen, Fische fangen und eigenes Gemüse in meinem Garten anbauen. Abends im örtlichen Pub vorbeischauen, um den Dorfklatsch mitzubekommen, mich gelegentlich auch an den gemütlichen Veranstaltungen mit Musik, Gesang, Tanz und Geschichtenerzählen beteiligen. Oder an den Dartturnieren.
Plötzlich fiel ein Schatten auf mich herab. Als ich mich umdrehte, zeichnete sich eine männliche Silhouette vor der Sonne ab.
»Sind Sie zufällig Mr. Douglas Brodie?« Aus seiner Stimme war der harte nasale Unterton des nordirischen Dialekts gut herauszuhören.
Während ich aufstand, fiel mir sein Priesterkragen auf. Er trug ein blaues Hemd und ein schwarzes Jackett. Das schüttere blonde Haar hatte er mit Frisiercreme dicht an den Schädel geklebt. Dennoch schien er mir fast zu jung für einen Priester zu sein. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern wirkten ungeheuer verletzlich.
»Im Augenblick kommen nicht viele Gäste hierher«, fuhr er
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