Galgeninsel
Vielleicht wussten die beiden ja etwas zu berichten, was weiterhelfen konnte. Anna Kandras nahm nicht ab. Lydia sprach auf den Anrufbeantworter und sagte den Termin ab. Dann, nachdem Schielin schon gegangen war, schloss sie die Bürotür, legte ihren Notizblock zurecht und begann erneut zu telefonieren. Nebenbei befüllte sie Google mit den Begriffen, die ihr während der Telefonate in den Sinn kamen. Sie entdeckte einige Einträge über die Bank, die von schweizerischen Servern stammten. Die Inhalte waren ihr wenig verständlich. Aber ihr kamen diese gemeinsamen Treffen mit österreichischen und schweizerischen Kollegen in den Sinn. Man traf sich zum Schießen, Grillen oder Fußballspielen und das war Gold wert. Ohne direkte, inoffizielle Kontakte war man hier an den Grenzen doch aufgeschmissen. Auf die Ergebnisse eines offiziellen Ermittlungsersuchens hätten sie Wochen, ja Monate warten müssen.
Sie wählte eine lange Nummer und am anderen Ende meldete sich Kathrin Seebrugger von der Kripo St. Gallen. Die freute sich über den Anruf und dann auch darüber, ihrer Kollegin helfen zu können. Und die Schweizer – die hatten vielleicht Datenbanken …
Mehrfach telefonierte sie hin und her, dazwischen vervollständigte Lydia die Erkenntnisse mit Recherchen bei den Einwohnermeldeämtern und der Bankenaufsicht, sowie im Internet. Als sie alles beieinander hatte, lehnte sie sich müde und zufrieden zurück. Nach einer kurzen Zeit der Entspannung brannte sie darauf, dass Schielin zurückkäme. Er würde überrascht sein über das, was sie herausgefunden hatte.
*
Als Schielin an der Wohnung von Kandras ankam, warteten Putzfrau und Sekretärin bereits vor dem Eingang. Anhand der äußeren Erscheinung konnte er nicht zuordnen, wer von beiden nun Putzfrau und wer Sekretärin war. Er traf auf zwei attraktive, gepflegte Frauen Mitte vierzig. Ohne großes Aufhebens gingen sie ins Haus. Kandras bewohnte ein in den sechziger Jahren erbautes Haus an der Steig in Reutin. Es stand hoch über der Straße. Eine breite Fensterfront in Erd- und Obergeschoss zog sich an der nach Süden ausgerichteten Längsseite hin. Im Erdgeschoss ragte eine Markise, die über die gesamte Hauslänge verlief, ein Stück über die Terrasse. Schielin wunderte sich. Die Markise war sicher bei Sonnenschein ausgefahren worden. Und als das schlechte Wetter kam, konnte Kandras sie nicht mehr einholen.
Er drehte sich um und sah Richtung See. Von hier hatte man einen wundervollen Blick, bis hinüber zur Rheinmündung und auf die Berge.
Im Obergeschoss waren die Jalousien ein Stück herabgelassen. Im Erdgeschoss befand sich außer dem riesigen Büroraum nur eine kleine Küche, eine Dusche und eine Toilette. Kandras bewohnte das Obergeschoss. Schielin ging langsam die breite Wendeltreppe nach oben. Die beiden Frauen folgten ihm. Die Brünette sagte, dass sie am Montag Vormittag hier gewesen war und wie immer das ganze Haus gereinigt hatte. Das war also die Putzfrau, und er musste auf Spuren oder dergleichen nicht mehr achten, was ihm den Termin hier erleichterte.
Als er im türlosen Wohnbereich von Kandras ankam und die Kargheit der Räume wahrnahm, flog ihn wieder ein Hauch von Mitleid an. Die beiden Frauen interpretierten sein bisheriges Schweigen richtig, und waren wieder nach unten zurückgekehrt. Von dort hörte er Getuschel. Langsam ging er den Gang entlang, vorbei an der Küche, deren Ausstattung ihn kurz aufhielt. Von den glänzenden schwarzen Fliesen, den schwarzen Kücheneinbauten und den chromblinkenden Griffen ging eine klinische Reinheit und Kühle aus, die seiner Meinung nach in einer Küche nichts verloren hatte. Aber das war Geschmackssache. Gegenüber lag das Bad. Ein Traum aus schwarzen Fliesen. Wenigstens die Duschwanne war hell. Der Boden des gewaltigen Wohnraums, der zwei Drittel der Grundfläche einnahm, war mit dunkelbraunem Parkett belegt. Schielin fand an der Wand gegenüber der Fensterfront ein weißes, dreisitziges Ledersofa. Davor stand ein Glastisch, gegenüber ein Flachbildfernseher in einem Audioschrank. Darunter eine Stereoanlage. Hinten links, in der Ecke, als wäre es woanders im Wege gewesen, vereinsamte ein Regal. Schielin fand dort ein paar CDs und DVDs. Nichts besonderes, ein paar Bruce-Lee-Filme, und die musikalische Erlebniswelt von Kandras waren mit etwa dreißig CDs ebenfalls befriedigt. Überwiegend Popsammlungen. Kaum CDs einzelner Interpreten, Klassisches gab es überhaupt nicht. Schielin blieb irritiert stehen,
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