Galgentochter
schüttelte sich ein wenig, doch ihr Kopf schmerzte, schon wieder war der Mund so trocken, ihre Zunge schien zu groß dafür und schmeckte übel.
«Wo ist Sebastian?», fragte sie. Im selben Augenblick kehrte die Erinnerung an ihn zurück. Er war in die Stadt geritten, ohne ihr zu winken. Mohnsaft solle sie ihm besorgen, dann würde er sie mit sich nehmen. Für immer? Das Mädchen wusste es nicht mehr. Ihr war so unglaublich schlecht. Und sie war müde.
«Ich will nach Hause», wimmerte sie.
Und die Hebamme trug sie mehr, als dass sie selbst lief, im Morgengrauen über die Wiesen zurück in ihr Haus und legte sie schlafen.
Als sie am nächsten Tag erwachte, lag die Hebamme noch im Bett. Das Mädchen holte Wasser und kochte die Frühstücksgrütze. Dann, als sie Hebamme noch immer nicht aufgestanden war, ging sie in deren Kammer und setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
«Es geht mir nicht gut», sagte die Hebamme. «Ich glaube, meine Zeit ist langsam gekommen. Ich bin alt. Älter als manch anderer. Ins einundsechzigste Jahr gehe ich schon.»
Das Mädchen schwieg, streichelte der Hebamme die Hand. Ein paar Tränen tropften auf die Bettdecke.
«Weine nicht, meine Kleine. Weine nicht. Der Tod ist nicht schlimm, nur das Sterben macht Angst.»
«Ich weiß», flüsterte das Mädchen.
Die Hebamme erwiderte nichts darauf. «Versprich mir», bat sie. «Versprich mir, mein Kind, dass du von dem Patrizier lässt. Versprich es mir!»
Das Mädchen nickte. «Ich verspreche es. Einmal noch muss ich zu ihm und dann niemals wieder.»
«Er wird dich nicht heiraten.»
«Ich weiß. Aber einmal noch muss ich ihn sehen.»
«Lass auch das eine Mal. Lass ihn», bat die Hebamme. «Bleib heute bei mir. Ich brauche dich.»
«Ich werde nicht lange weg sein», erwiderte sie. «Aber es gibt Dinge, die lassen sich nicht aufschieben.»
Den ganzen Tag saß das Mädchen am Bett ihrer Ziehmutter. Sie legte ihr kühlende Lappen auf die Stirn, flößte ihr stärkende Tränke ein. Als die Hebamme in unruhigenSchlaf gefallen war, löste das Mädchen vorsichtig das Lederbändchen mit dem Schlüssel von ihrem Hals. So leise es ging, schlich sie durch das Haus, holte eines der mit Mohnsaft gefüllten Fläschchen und verbarg es in ihrer Rocktasche. Dann setzte sie sich wieder neben die Hebamme, um über deren Schlaf zu wachen. Als die Dämmerung über die Stadt hereinbrach, weckte sie die Frau.
Behutsam beugte sich das Mädchen hinunter und küsste sie auf die Stirn. «Ich habe Euch lieb», flüsterte sie. «Ihr wart die Einzige, die es immer gut mit mir gemeint hat. Aber einer allein ist zu wenig. Habt Dank für alles, was Ihr Gutes an mir getan habt.»
Die Hebamme sah mit verschwommenem Blick auf das Mädchen, dann lächelte sie ein wenig. «Auch ich habe dich lieb», flüsterte sie rau. «Du warst mir die Tochter, die ich nie hatte. Gott schütze dich.»
Dann fiel sie erneut in einen Schlaf, der ein Vorbote des Todes war.
Lange stand das Mädchen an ihrem Bett, prägte sich jeden einzelnen Zug des lieben Gesichtes ein. Dann strich sie ihr noch einmal sanft über die Wangen und verließ das Haus.
Mit gesenktem Blick und eng an den Katen entlang eilte sie durch die Vorstadt. Blind war sie für alles ringsum, taub für jeden Gruß und jedes Geräusch. Als die Glocken den Abend einläuteten, verfiel sie in einen Laufschritt und erreichte das Tor zur Stadt als Letzte an diesem Tag. Sie wandte sich nach links, lief ihm Schatten der hereinbrechenden Nacht nahe am Flussufer zum Hafen. Blicklos hastete sie an den Winden und Lastkähnen, an den Kontoren und Speichern entlang, bis sie, das Hafengelände eben verlassend, auf einen wackeligen Schuppen stieß, in dem der Schäferder Stadt im Winter das Heu lagerte. Ohne zu zögern, öffnete sie das mit einem Eisenriegel nur notdürftig gesicherte Tor und ging hinein. Obwohl es drinnen stockdunkel war, wusste sie, dass Sebastian bereits auf sie wartete.
Leise rief sie seinen Namen.
«Hier bin ich», hörte sie seine Stimme, die unfreundlich, beinahe schon kalt klang. «Hast du den Mohnsaft bei dir?»
Es dauerte eine kleine Weile, bis das Mädchen den Liebsten gefunden hatte. Ihre Lippen suchten seinen Mund, doch Sebastian stieß sie zur Seite. «Hast du den Mohnsaft?», wiederholte er.
«Ja. Ich habe, was du wolltest. Nimmst du mich nun mit in die Stadt? Machst du mich zu deiner Frau?»
Der Mann lachte. Lachte so höhnisch, dass dem Mädchen eiskalt wurde.
«Hast du jemals geglaubt, ein
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