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Galgentochter

Galgentochter

Titel: Galgentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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entleerte. Da lachte das Mädchen. Sie stand auf, versteckte das Tugendhaus in einer Ecke unter dem Heu, dann schürzte sie ihr Kleid und öffnete die Tür. Sie war nicht groß und nicht breit, doch die Arbeit im Garten, die schweren Wassereimer, die sie täglich vom Brunnen geholt hatte, hatten sie stark gemacht. Sie lauschte in die Nacht, und als alles still war, so still, dass ihre Atemzüge ihr wie Posaunenklänge erschienen, verließ sie die Scheune, nahm ein Stück Speck und tröpfelte Mohnsaft darauf. Am Hafen wimmelte es in der Nacht von wilden Hunden, die darauf hofften, dass beim Be- und Entladen der Schiffe das eine oder andere Fressbare für sie abgefallen war, welches sie nun ungestört von den Tritten der Hafenarbeiter verschlingen konnten.
    «Komm, kommt her zu mir», lockte das Mädchen mit leiser Stimme und schwenkte dabei das Speckstück. Es dauerte nicht lange, da näherte sich der erste Hund. Misstrauisch blieb er einige Schritte vor ihr stehen. Da warf sie ihm das Speckstück hin, und schon stürzte sich der Köter darauf. Es dauerte nicht lange, bis der Mohnsaft wirkte und er auf die Seite fiel. Darauf hatte das Mädchen gewartet. Sie nahm den Hund auf den Arm und trug ihn zum Mainufer. Dann lief sie zurück zur Scheune, immer darauf achtend, dass kein Geräusch und kein Licht die Nähe eines Hafenwächters anzeigte. Das Mädchen packte den Toten bei den Knöcheln und zog ihn hinunter zum Mainufer. Sie kannte das Boot, welches dort vertäut war. Es gehörte dem Fischer, der sie damals aus dem Wasser gerettet hatte. Nun lud sieden Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass er sie liebte und der nun tot war, weil er diese Liebe verraten hatte, in den Kahn, packte den betäubten Hund dazu, stieß den Kahn mit letzter Kraft ganz in den Fluss hinein, sprang selbst hinzu, nahm das Ruder und schlug damit kräftig in das dunkle Wasser. Sie brauchte nicht lange, bis sie unterhalb des Galgenberges angelangt war. Das Mädchen ruderte langsam ans Ufer, zog das Boot mit seiner schweren Last an Land. Dann lief sie zielstrebig zu einem kleinen Gebüsch und holte dahinter eine einrädrige Karre hervor. Sie lud Hund und Mann auf die Karre, ächzte dabei, stöhnte, musste innehalten und Atem schöpfen, musste die vor Anstrengung zitternden Knie beruhigen, sich den Schweiß aus den brennenden Augen wischen, doch immer noch war Kraft in ihr. Es war eine Kraft, die nichts mit Muskeln zu tun hatte. Eine Kraft, die aus ihrem Inneren kam. Wenn ein Mensch in Lebensgefahr war, so entwickelte er Bärenkräfte, hatte das Mädchen die Leute sagen hören. Nun, bei ihr war es anders. Ihr Leben war nicht in Gefahr. Sie war schon lange tot, schon viele Male gestorben und wieder auferstanden. Dieses Mal war ihre Auferstehung in Gefahr.
    Endlich waren Mann und Hund auf dem Karren, endlich der Karren den leichten Hügel hinauf bis zum Galgenberg gezogen. Oben angelangt, musste sich das Mädchen setzen. Sie spürte, wie die Kraft, die aus ihrem Inneren kam, schwächer wurde. Es war, dachte sie, wie bei der Hebamme, die mit jedem Atemzug schwächer geworden war. Das Mädchen faltete die Hände, betete für die Hebamme und dafür, dass sie sie noch lebend antraf. Sie raffte sich auf und drapierte den Leichnam unter dem Galgen. Den Kopf direkt am Balken, die Arme ausgebreitet wie Jesus am Kreuz. Dann stieg das Mädchen, den betäubten Hund undein Hanfseil über der Schulter, auf den Karren, kletterte dann am Balken hinauf zum Querbalken. Wie ein Zirkusmädchen legte sie sich auf den Querbalken, den Hund nun vor sich, und legte ihm die Schlinge des Hanfseils um den Hals. Als eine seiner Muskeln zuckte, strich sie ihm sanft über den Kopf. «Bist das Niedrigste aller Geschöpfe», flüsterte sie. «Bist der, der noch niedriger ist als ich. Bist einer von denen, die den Samen aus meinem Schoß geleckt haben. Sag selbst, gibt es jemanden, der sich noch mehr erniedrigen könnte? Nun, du sollst Zeichen sein für die Niedrigkeit des Toten unter dir. Du, selbst niedrig und elend, hängst ÜBER ihm.»
    Der Hund rührte sich nicht. Das Mädchen schlang das andere Ende des Hanfseils um den Querbalken, dann stieß sie den Hund hinunter. Sie hörte, wie sein Genick brach, und bekreuzigte sich. Dann kletterte sie den Balken hinab, nahm die Karre, eilte nun zurück zum Boot, brachte es – der Fischer war ihr Freund – zurück an die alte Stelle und wartete neben dem Stadttor, bis es geöffnet wurde. Über die Brücke lief sie zum Haus der Hebamme,

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