Galgentochter
wurde immer schneller, je näher sie ihm kam. Sie stürzte zur Haustür hinein, rief nach der Hebamme, rief nach ihr wie eine Ertrinkende.
Doch sie bekam keine Antwort. Kein Gegrummel aus der Küche, keine Geräusche aus dem Garten. Langsam stieg sie die Stiege zur Kammer der Hebamme hinauf. Sie öffnete die Tür – und prallte zurück. Die Hebamme lag auf dem Bett, das Haar ausgebreitet, doch das Gesicht so starr und wächsern, dass das Mädchen auf der Stelle wusste, dass die Hebamme tot war. Sie starrte auf die Frau, ging langsam, Schritt für Schritt, näher, setzte sich schließlich auf die Bettkante. Sie nahm die Hand der Frau, streichelte sie zärtlich.Als die Tränen kamen und das Schluchzen sie schüttelte, legte sie sich neben die tote Hebamme ins Bett, ihren Kopf auf die Brust der Toten gebettet, und benetzte den Stoff mit ihren Tränen.
Kapitel 25
Hella hatte sich fest vorgenommen, gleich nach dem Mittagessen in die Vorstadt zu gehen und mit Agnes zu reden. Sie glaubte nicht daran, dass das Mädchen sie vor den Gauklern bloßstellen wollte. Wahrscheinlich ging es ihr um die Liebestränke, die sich besser ohne Zeugen verkaufen ließen. Trotzdem wäre es gut zu wissen, wen sie alles mit ihren Kräutern belieferte. Und gut wäre es auch, zu erfahren, ob sie sich auf Abtreibungen verstand oder zumindest mit Gartenraute handelte. Hella hatte wenig Hoffnung, dass das Mädchen ausgerechnet einer Richtersfrau erzählen würde, was sie wusste, aber sie wollte es wenigstens versucht haben.
Außerdem hatte sie sich vorhin von Gustelies ganz genau erklären lassen, wie Gartenraute aussah, angewandt wurde und roch. Gustelies hatte ihr erzählt, dass Gartenraute auch viele gute Eigenschaften hatte. In richtigem Maße angewandt, wirkte sie krampflösend und beruhigend, regte den Appetit an und förderte den Schlaf. Doch schon die kleinste Prise zu viel konnte den Tod bedeuten. Die wenigsten Hebammen, Apotheker und Ärzte benutzten Gartenraute. Zu unberechenbar war ihre Wirkung, zu unsicher die richtige Dosierung.
Nun wollte Hella zu Agnes, um sie nach einem Schlafpulver aus Gartenraute zu befragen. Doch sie kam nicht dazu. Wolken zogen auf und hingen wie Blei über der Stadt.Hella musste sich eilen, die Wäsche, die zum Trocknen im Hof hing, abzunehmen. Die Hemden und Beinkleider, die Bruchen, Laken, Tischdecken und Unterkleider waren noch feucht. Also heizte sie ein Kohlebecken und glättete die feuchten Sachen mit einem heißen Stein. Als sie damit fertig war, hatte es sich eingeregnet. Vor dem Fenster in der Fahrgasse gingen gleichförmige, dünne Regenfäden nieder. Das Straßenpflaster glänzte, die wenigen Menschen auf der Gasse hatten sich ihre Kapuzen tief in die Stirn gezogen. Nur ein paar herrenlosen Hunden schien der Regen nichts auszumachen. Sie suchten in den Abfallgräben nach Essbarem.
Hella seufzte. Die Untätigkeit gefiel ihr nicht. Also holte sie ihren Umhang und machte sich auf den Weg in die Vorstadt. Am Haus des Henkers betätigte sie den Messingklopfer. Die Scharfrichtersfrau öffnete ihr.
«Gelobt sei Jesus Christus.»
«In Ewigkeit. Amen. Was führt Euch zu uns, Blettnerin? Kommt schnell herein, ehe Ihr ganz und gar durchweicht.»
Hella zögerte kurz. Dem Scharfrichter auch nur die Hand zu geben hieß, dass man sich verunreinigte. So sehr, dass dies kein Wasser abwaschen konnte. Was aber bedeutete es, das Scharfrichterhaus zu betreten, dem Weib des Henkers in die Küche zu folgen und aus ihrer Hand einen Becher dampfenden Kräutertee zu nehmen?
«Was führt Euch zu uns?», fragte die Henkersfrau noch einmal.
Hella seufzte wohlig und stellte den leeren Becher zurück auf den Tisch. «Zu einem Kräutermädchen wollt’ ich. Doch ich weiß nicht, wo sie wohnt.»
«Ein Kräutermädchen? Ihr meint nicht die alte Dorothee,die am Ende der Gasse wohnt und auch Reisig verkauft?»
Hella schüttelte den Kopf. «Eine junge Frau. Einige Jahre jünger als ich. Agnes ist ihr Name.»
Die Henkersfrau lachte. «Die Agnes meint Ihr. Nein, eine richtige Kräuterfrau ist sie nicht. Sie hat keine Ahnung von Heilkunde, stellt weder Salben noch Tränke her. Sie wohnt im Haus der Hebamme.»
«Sonst weißt du nichts?»
Die Henkersfrau schüttelte den Kopf. «Nein, nichts. Aber ich weiß nicht alles, denn mit dem Weib des Scharfrichters spricht auch in der Vorstadt nicht jeder.»
«Wo wohnt sie, die Agnes?»
«Drüben in Sachsenhausen. In der Gasse, die zum Wald führt. Im vorletzten Haus.»
Hella
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