Galgentochter
Lederband, führte es durch das Oberteil des Schlüssels und hängte ihn sich um den Hals.
Das Mädchen sah das, wusste, was es bedeutete – und zuckte die Achseln.
Leise, sodass die Hebamme sie nicht hören konnte, murmelte sie: «Was schert mich deine Angst? Alt genug bin ich, um selbst bestimmen zu können, was mir guttut und was nicht. Sebastian tut mir gut. Er liebt mich. Das ist mehr, als du hast.»
«Was hast du gesagt?», fragte die Hebamme.
«Ich habe gesagt, dass ich nicht glauben kann, dass Sebastian mir etwas Böses will. Er liebt mich. Genau wie ich ihn.»
«Wenn das so ist, dann soll er dich heiraten und dir ein angenehmes Leben bieten, anstatt dich im Wald hinter den Bäumen versteckt zu nehmen. Tanzen gehen soll er mit dir, sich mit dir zeigen, dich in Samt und Seide hüllen. Wer es ehrlich meint, versteckt sich nicht.»
Als das Mittagsmahl beendet und das Geschirr blank im Spülstein zum Trocknen stand, machte sich das Mädchen wieder auf den Weg. Diesmal war sie zu früh dran. Sie setzte sich unter einen Baum und wartete. Nach einer halben Stunde sah sie endlich, wie sich ein Reiter näherte. Wieder hatte Sebastian Kuchen und kandierte Früchte dabei.
«Ich darf nichts davon essen», sagte das Mädchen. «Die Hebamme hat es mir verboten. Sie meint, du hättest die Sachen mit Mohnsaft versetzt.»
Sebastian nickte. «Recht hat sie, die Alte. Mit Mohnsaft, den ich von ihr kaufte.» Er breitete die Arme aus. «Was ist daran schlecht? Es gibt Dinge, die das Leben leichter und bunter machen. Wer uns hindern will, das Leben zu genießen, kann nur vom Neid getrieben sein. Welche Freuden hat sie denn, die Alte, he? Hat sie einen Mann? Hat sie Freunde? Hat sie Geld? Schönheit? Nein! Nichts von alldem hat sie. Hässlich, arm und einsam ist sie. Sie neidet dir, meine Schöne, alles, was du hast.»
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ganz leise sagte sie: «Nein, sie ist nicht so.»
Doch der junge Mann wischte ihre Worte fort wie lästige Fliegen. «Natürlich ist es, wie ich es sage. Was hat sie denn vom Leben?»
Das Mädchen schwieg. Als Sebastian sie in die Arme nahm, ihr Gesicht umfasste, sie liekoste, küsste, verzärtelte, wurde sie weich. Vielleicht hat er recht, dachte sie. Was gibt es Schöneres als die Liebe? Und wann hat die Hebamme wohl zum letzten Mal in den Armen eines Mannes gelegen?
Als Sebastian ihr eine kandierte Frucht reichte, schüttelte sie den Kopf, doch als er ein Törtchen in seinen Mund nahm und sich ihr näherte, aß sie die Süßigkeit von seinen Lippen. Wieder war ihr, als könne sie plötzlich fliegen. Der Himmel war blau, so blau und so unheimlich nah. Die Sonne stand als Glücksrand inmitten des Blaus und schien nur darauf zu warten, von dem Mädchen gedreht zu werden.
Sebastians Lippen waren weich, seine Hände sanft. Ihre Lust stieg als Schrei in das Himmelsblau, vermischte sich mit dem Gesang der Vögel.
Kurz bevor das Abendläuten Sebastian zurück in dieStadt rief, fragte das Mädchen: «Nimmst du mich mit? Mit zu dir und in die Stadt? Als deine Frau?»
Sebastian lachte, nahm ihr Gesicht in seine Hände, stupste seine Nase gegen ihre. «Was weißt du denn von den Städterinnen?», fragte er. «Was weißt du davon, wie sie sich kleiden, sich frisieren, worüber sie reden?»
«Nichts.»
«Siehst du. Ich bin sicher, du würdest dich nicht wohlfühlen unter ihnen. Du bist ein Kind der Natur, bist nur inmitten des Waldes glücklich.»
Das Mädchen schüttelte den Kopf. «Nein, so ist es nicht. Ich bin kein Naturkind, lebte nicht immer bei der Hebamme. Alles, was ich weiß, weiß ich von ihr. Nimm mich mit in die Stadt. Ich werde mich schnell gewöhnen und schon bald nicht mehr von den anderen Frauen zu unterscheiden sein.»
Sebastian ließ sie los und sah sie forschend an. «Wenn ich dich mit in die Stadt nähme, nur zu einem Besuch, was würdest du dann für mich tun?», fragte er.
«Ich würde dich noch mehr lieben», erwiderte das Mädchen strahlend.
«Ich möchte, dass du mir von dem Mohnsaft dafür bringst. Du wohnst bei der Hebamme. Sicher habt ihr das Zeug in Hülle und Fülle. Mir verkauft sie nichts mehr. Vorhin war ich dort. Sie hat mir die Tür vor der Nase zugeworfen.»
«Sie hat die Säfte und Tränke, die Elixiere und Tinkturen alle weggeschlossen. Im Keller sind sie. Ich komme nicht daran. Sie hat bemerkt, dass ich davon gekostet habe. Da hat sie den Saft vor mir versteckt.»
Sebastian überlegte einen Augenblick. Dann sagte er: «Aber du
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