Galgentochter
Hella allein gegangen. Sie hatte selten Angst. Höchstens vor Ratten, manchmal, wenn sie sie in der Nacht quieken hörte. Und jetzt. Ein bisschen. Gerade so viel, dass sie die Angst als Druck auf der Brust wahrnahm. Ich bin eine Gans, schalt sie sich selbst. Warum habe ichdenn Angst? Wovor denn? Vor einem jungen Mädchen, welches kaum größer und stärker ist, als ich es bin? Ich will ihr doch nichts Böses. Nur fragen will ich sie, ob sie sich mit Mohnsaft auskennt. Nach der Gartenraute muss ich sie nicht mehr fragen, denn nun ist ja klar, dass die Gaukler unschuldig sind. Ganz früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, hatte Heinz den Befehl gegeben, die Gaukler freizulassen und ihnen Geleit bis zum Stadttor zu geben. Hella wusste, dass er sie mit ein paar Gulden für die grundlosen Verdächtigungen entschädigt hatte. Gulden, die er niemals aus der Stadtkasse zurückerhalten würde. Flüchtig dachte Hella an ihre Mutter. Ob sie sehr um Tom trauern würde? Dann wischte sie diesen Gedanken beiseite. Um Gustelies kümmere ich mich später, beschloss sie und wandte ihre Gedanken wieder dem Mädchen aus der Vorstadt zu, welches Agnes hieß. Agnes, was «die Reine, die Keusche» bedeutete.
Ich werde sie fragen, überlegte Hella, ob ich etwas von ihr kaufen kann. Das ist alles. Wenn die Rede darauf kommt, so wüsste ich schon gern, wer ihre anderen Kunden sind, wo sie herkommt und ob sie vielleicht einen Gewandschneider und einen Patriziersohn kennt. Es ist heller Tag, es gibt nichts, wovor ich mich fürchten muss.
Plötzlich trat ihr eine Frau in den Weg. Eine Hausfrau mit geputzer Haube und roten Wangen. «Seid Ihr die Richtersfrau?», fragte sie.
Hella nickte. «Das bin ich.»
«Eine Beobachtung wollt’ ich melden, jetzt, wo der junge Eibisch hingemeuchelt ist. Aber ins Amt gehe ich nicht damit. Wer einmal dort auftaucht, dem klebt man ganz schnell Dreck an den Stecken. Euch sag ich’s, niemandem sonst.»
«Was habt Ihr beobachtet?», wollte Hella wissen. «Und wer seid Ihr?»
«Wer ich bin, das tut nichts zur Sache. Nun, vor ein paar Tagen sah ich den jungen Eibisch hier in der Vorstadt. Er saß auf seinem Pferd. Ein junges Mädchen stand vor ihm. Dann stieg er ab, küsste sie auf beide Wangen. Am helllichten Tag! Stellt Euch das nur einmal vor! Dabei sah sie gar nicht wie eine Hure aus.»
«Vor ein paar Tagen, sagt Ihr?», fragte Hella nach.
«Vorgestern vielleicht. Oder am Tag davor. Ich weiß es nicht mehr genau.»
«Wisst Ihr noch, Bürgersfrau, wie das Mädchen aussah?»
Die wackere Hausfrau nickte. «Ganz genau weiß ich das noch. Sie hatte dunkelbraunes Haar, welches ihr bis zu den Ellbogen reichte. Offen hing es ihr über der Schulter. Ganz ohne Band oder Spange. Ihre Augen waren groß und dunkel. Mir scheint, sie standen ein bisschen vor. Nicht ganz wie Froschaugen, aber doch ein wenig so. Sie trug ein rotes Überkleid mit etwas Weißem darunter. Ziemlich mager war sie.»
«Und wie alt?», fragte Hella.
Die Hausfrau zuckte mit den Achseln. «Jünger als Ihr. Vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre.»
«Habt Ihr sie vorher schon einmal gesehen?»
Die Hausfrau schüttelte den Kopf. «Noch nie. Ich habe selten in der Vorstadt zu tun, lasse nur meine Wäsche dort nähen. Aber kennen tue ich niemanden von dort. Ich bin eine anständige Bürgersfrau. Nur die Wäsche lasse ich in der Vorstadt machen. Sonst nichts. Zehnmal billiger kommt mich das als in der Stadt. Na ja, und dass unsere Gewandschneider allesamt Betrüger sind, ist Euch ja bestimmt nicht neu. Die alte Liese war früher Magd bei einerHerrin. Sie versteht sich auf eine gute Näharbeit. Wo war ich?»
«Ich fragte, ob Ihr das Mädchen vorher schon einmal gesehen habt?»
«Nicht dass ich wüsste. Wie gesagt, ich bin manchmal in der Vorstadt, aber gesehen habe ich sie noch nie dort.»
Hella bedankte sich sehr höflich bei der Hausfrau, dann ging sie langsam weiter. Die Beschreibung hatte auf das Kräutermädchen gepasst. Langes, dunkles, offenes Haar, dunkle Augen, die ein wenig hervorstanden. Ein rotes Kleid.
Für einen Moment verharrte Hella mitten auf der Brücke. Sollte sie nicht zurück ins Malefizamt gehen und Heinz Bescheid geben? Oder sich wenigstens von einem Boten begleiten lassen? Sollte sie nicht vielleicht bis morgen warten und noch einmal gemeinsam mit Gustelies herkommen? Sie stand, scharrte mit dem Fuß über den Boden. Dann richtete sie sich kerzengerade auf, bog die Schultern nach hinten und ging nun raschen Schrittes
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