Galgentochter
verschlossen war», murmelte sie. «Schwören könnt’ ich!»
Sie betrachtete das Schloss, das ganz unversehrt war, schüttelte wieder den Kopf. Dann schritt sie vorsichtig hindurch, starrte dabei auf den Boden, als vermutete sie dort Schätze. Einmal blieb sie stehen, bückte sich und betrachteteaufmerksam eine kleine Stelle im Gras, die niedergedrückt war. Sie nahm einen Faden aus ihrer Rocktasche, machte einen Knoten, legte den Knoten an den Anfang des Niedertritts und machte einen zweiten am Ende. Dann legte sie den Faden quer über die Stelle und verfuhr wieder so.
Sie hockte da und sah sich um. Etwas weiter sah sie noch eine niedergedrückte Stelle. Vorsichtig untersuchte sie auch diese. Dann die nächste und die übernächste, bis sie das Ende der Wiese erreicht hatte und zum Richtplatz kam, der mit Kies bestreut war. Hella betrachtete jeden einzelnen Stein. Aber die lagen da und wussten nichts und sagten nichts. Ihr Blick fuhr nach oben. Dort hing noch immer der Hund. Ein Rabe kam näher, setzte sich auf den Querbalken und krächzte. Hella wurde ganz kalt von seinem Geschrei, und sie lief davon.
Am Abend war sie still und fragte nicht einmal nach dem Gewandschneider, von dessen Verschwinden Richter Blettner in der Schenke gehört hatte.
«Weg soll er sein, der Strolch. Ich hoffe, er kommt bald wieder. Schließlich ist ein Mann kein Knopf, der so einfach abhandenkommt. Ich möchte mich nicht darum kümmern müssen.»
Heinz Blettner brach sich ein Stück Brot ab, tunkte es in die Soße, schob es in den Mund und kaute.
«Liebes, du isst ja gar nichts», stellte er fest. «Ist dir nicht wohl?»
«Doch, doch», erwiderte Hella und brach sich ebenfalls ein Stück vom Brot.
«Nimm Butter, sonst bleibst du so dünn. Ein bisschen Speck auf den Rippen hat noch niemandem geschadet.»
Hella nickte, doch Blettner sprach schon weiter. «Heute, in der Schenke, habe ich mit Abraham, dem Geldleiher,gesprochen. Er hat mir eine Geschichte erzählt. Willst du sie hören?»
Hella nickte und strich sich ein wenig Butter auf den Brotkanten, bevor sie abbiss. Doch ihre Gedanken waren noch immer auf dem Galgenberg. Etwas war da, das sich in ihrem Hinterkopf eingenistet hatte. Etwas hatte sie dort gesehen, aber zu spät erst wahrgenommen. Was war das? Wenn sie nur wüsste, was sie gesehen hatte! Oder in welchem Zusammenhang dies stand.
«Also: Da ist ein alter Jude, der ist so krank, dass ihm kein Arzt helfen kann. Der Rebbe wird gerufen, und der alte Jude jammert: ‹Ich werde sterben, Rebbe, ich weiß es.›
‹Nun›, sagt der Rebbe. ‹Vielleicht gibt es doch noch etwas, das Euch heilen kann.›
Der alte Jude überlegt, dann zieht ein Lächeln über sein Gesicht. ‹Schinken›, sagt er dann. ‹Ein gutes Stück Schweineschinken wäre wohl die beste Medizin.›
Der Rebbe schickt einen Blick zum Himmel, dann zuckt er mit den Achseln. ‹Also gut, wenn es denn hilft.›
Der alte Jude schickt die Frau nach Schinken. Die geht, bringt ein prächtiges Stück. Der alte Jude lässt sich ein Lätzchen vorbinden und kostet ganz vorsichtig. Dann schaut er ungläubig, nimmt den Schinken zur Hand und beißt kräftig hinein, wieder und wieder, bis alles aufgegessen ist. Er wischt sich mit einem Tuch den Mund ab, sieht den Rebbe enttäuscht an, sagt: ‹Das ist alles?›
Dann legt er sich hin und stirbt.»
Heinz schlug sich auf die Schenkel und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. «Verstehst du, Hella? Ein Jude und Schinken! Und dann schmeckt er noch nicht einmal!»
Er kicherte, bis Hella ebenfalls den Mund ein wenig verzog.Als Heinz sich beruhigt hatte, sagte Hella: «Es wird etwas passieren. Etwas Schlimmes. Ich kann es fühlen.»
Richter Blettner zog die Stirn in Falten. «So ein Unfug. Ich habe gehört, dass manche Leute den ersten Schnee in den Knochen spüren. Andere sollen das Zweite Gesicht haben. Aber du? Hör auf mit diesen Torheiten, das macht dich ganz trübsinnig.»
Hella zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. «Du hast recht.» Etwas in ihr drängte sie, ihrem Mann von dem zu erzählen, was sie am Galgenberg gesehen und doch nicht gesehen hatte. Aber Richter Blettner konnte man nicht mit Ahnungen und Vagheiten kommen. Fakten brauchte er, Dinge, die man anfassen konnte. So war er. Auch ein Gedicht, ein Sonnenuntergang oder ein Märzveilchen konnten Heinz Blettner nicht den Atem rauben. Brachte man ihm aber ein blutiges Messer, einen abgehackten Kopf oder wenigstens einen Toten mit Würgemalen am
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