Galgentochter
einen Altar weihen. Lieber Gott, wenn du mir hilfst, die Schulden abzutragen, dann werde ich mein nächstes Kind in ein Kloster schicken. Oder aber: Lieber Gott, wenn ich dir das Geschenk des Lebens zurückgebe, dann wirst du mich nicht strafen. Wir reden mit Gott meist in Wenn-dann-Sätzen.»
Hella legte den Kopf schief. «Du hast recht. Du meinst also, der Gewandschneider hat sich selbst mit dem Tod bestraft, um Gottes Strafe zu entgehen?»
«Möglich.»
«Aber das verstehe ich nicht. Selbstmord ist an sich eine Todsünde. Er kann keine Todsünde begangen haben, um sich von seinen anderen Sünden reinzuwaschen.»
«Warum nicht?»
«Weil das wäre, als würde man Öl ins Feuer gießen.»
«Was wissen wir, wie ein Mensch, der verzweifelt ist, denkt? Nicht nur der Mensch braucht Gott. Auch Gott braucht uns Menschen.»
«Mutter, versündige dich nicht», bat Hella, doch Gustelies sprach schon weiter: «Hildegard von Bingen hat einmal gesagt: ‹Der Mensch braucht die Schöpfung Gottes zur Selbsterkenntnis. Gott aber braucht Mensch und Schöpfung zur Selbstoffenbarung. Er schuf den Menschen, um sich selbst in ihm zu lieben.›»
«Das hat eine Äbtissin gesagt? Ist sie nicht der Häresie bezichtigt worden?»
«Nein», erklärte Gustelies. «Am Ende hat der Papst ihre Sehergabe bestätigt. Sie war also Prophetin von Gottes Gnaden. Und sie hatte recht. Gott braucht den Menschen. Wer soll ihn sonst anbeten und lobpreisen? Wer die Schöpfung in Anspruch nehmen? Hast du dir, Hella, schon einmal Gedanken darüber gemacht, was Gott ohne die Menschen wäre? Gott ist erst zum Gott geworden durch die Menschen. Gäbe es keine Menschen, wäre er überflüssig.»
Hella schwieg, weil sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Die Gedanken ihrer Mutter erschienen ihr ungeheuerlich.
«Hast du mit Pater Nau schon einmal darüber gesprochen?», fragte Hella zaghaft. Gustelies nickte kräftig. «Aber natürlich, Kind. Und er hat unsere Auseinandersetzung zu Bruder Göck, seinem Antoniterfreund, getragen. Seither streiten sie, sooft sie sich sehen.» Gustelies verstummte, undihr Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte. «Aber mich lassen sie außen vor. Ich erfahre nichts mehr über ihre Dispute und Diskurse. Einer Frau steht Gelehrsamkeit nicht, meint Pater Nau. Manchmal glaube ich, dass eine Frau auch noch dreihundert Jahre nach Hildegard erst dann gehört und ernst genommen wird, wenn sie mit göttlicher Zunge spricht.»
«Willst du sagen, Hildegards Visionen kamen aus ihrem Verstand und waren nicht direkte Eingebungen Gottes?»
Gustelies lächelte leise: «Wer weiß das schon so genau. Ich jedenfalls habe schon öfter darüber nachgedacht, ob ich mir nicht auch Visionen zulegen sollte.»
«Hmm», machte Hella und schwieg. Sie dachte daran, dass sie jederzeit Zugang zu allen Büchern des Haushaltes hatte und dass Heinz stets bereit war, mit ihr über alles zu sprechen. Nun, sie diskutierten nicht gerade theologische Probleme, aber Hella zweifelte nie daran, dass Heinz sie ernst nahm.
Schweigsam gingen die beiden Frauen zurück in die Stadt und direkt ins Malefizamt. Der Richter saß in seiner Amtsstube und diktierte dem Schreiber ein Protokoll der Geschehnisse vom Morgen.
Als Hella und Gustelies die Stube betraten, strahlte er, als hätte er gerade auf diese beiden Frauen gewartet. «Kommt herein, meine Lieben. Setzt euch, setzt euch. Was kann ich für euch tun?»
Er schielte auf den Lederbeutel, den Gustelies in der Hand trug, und Hella verstand. «Heinz, wir sind nicht gekommen, damit du von Gustelies’ Kuchen probieren kannst. Im Beutel sind keine Naschereien für zwischendurch. Ja, das Ding gehört meiner Mutter nicht einmal, sondern …»
«… dem Gewandschneider», fügte Gustelies an und legte den Beutel auf den großen Arbeitstisch.
«Dem Gewandschneider? Wie kommt ihr dazu?»
Richter Heinz Blettner stupste mit dem Finger vorsichtig dagegen, dann stand er auf, beguckte den Beutel von oben, links und rechts und vorn und hinten. «Wo habt ihr ihn gefunden?»
Hella und Gustelies wechselten einen kurzen Blick. «Wir haben ihn aus der Vorstadt. Das Wirtschaftsgeld ist draufgegangen, als wir ihn einem alten Weib abkauften.»
«Das Wirtschaftsgeld? Heißt das, es gibt diese Woche nur Wasser und Brot?» Der Richter schüttelte den Kopf.
«Wenn du mir kein neues Geld gibst, reicht es gerade für Gerstenbrot, Schmalz und Schlachtabfälle», sagte Hella lächelnd.
Richter Blettner schüttelte
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