Galgentochter
gehorchte. Gustelies reichte den Beutel weiter an Hella; diese öffnete ihn und fühlte darin herum.
Dann nickte sie, und Gustelies ließ den Jungen los. «Lauf, mein Kleiner. Und sag der Alten einen Gruß.»
Der Junge rannte, so schnell er konnte. Seine Füße wirbelten dabei den Staub des Weges auf, aber Gustelies und Hella achteten nicht darauf.
«Was ist darin?», fragte Gustelies.
«Nichts Aufregendes. Ein Kamm, ein Nasentuch. Halt, da ist noch etwas.»
Gustelies sprang auf, stellte sich neben Hella und wollte ebenfalls in den Beutel sehen.
«Ein Schreiben! Hier, sieh nur, ein Schreiben!»
Sie brachte einen gefalteten Papierbogen zutage, der an den Seiten leicht geknickt, aber ansonsten heil war. Das Papier war nicht von feinster Machart, sondern grob und gekörnt.
Hella drehte das Papier nach allen Seiten. «Schlechtes, billiges Papier, wie es bei den Papiermühlen als Abfall vorkommt. Aber das Siegel des Gewandschneiders ist darauf, obwohl sich jeder Handwerker, der etwas auf sich hält, schämen würde, auf solch schlechtem Papier zu schreiben.»
«An wen ist das Schreiben?», fragte Gustelies.
«Es steht kein Empfänger drauf. Ein Schreiben nur mit Absender. Es ist, als könne es jeder öffnen, der es in die Hände bekommt.»
Die Frauen sahen sich an, dann nickte Gustelies, und Hella brach das Siegel.
«Lies vor!»
«‹Beichte› steht obendrüber. Sollten wir nicht doch zu Pater Nau …?»
«Unfug», widersprach Gustelies. «Schriftliche Beichten gibt es nicht. Es heißt ja nicht umsonst ‹Ohrenbeichte›. Die Reue, der erste Schritt, muss erkennbar sein. Außerdem ist die Beichte ein Sakrament. Wie will der Voss wissen, welche Buße ihm auferlegt ist? Unfug, Beichte! Lies weiter!»
«Ich, der Gewandschneider Konrad Voss, scheide freiwillig aus dem Leben. Ich habe mich versündigt an den Meinen. Die Werkstatt ist hoch verschuldet, sodass wir bald weder Brot auf dem Tisch noch ein Dach über dem Kopf haben. Ins Hurenhaus bin ich gegangen, habe Ehebruch geübt, und Gott hat mich schon zu Lebzeiten dafür bestraft. Ich leide an der Franzosenkrankheit und werde bald qualvolle Schmerzen erleiden, wenn ich am Leben bleibe. Doch ich werde mich richten, bevor der Herr mich richtet, in der Hoffnung, dass er mir vergibt. Er hat mir das Leben geschenkt und ich, der ich nicht würdig war, dieses Geschenk zu achten, gebe dem Herrn mein Leben zurück. Betet für mich! Konrad Voss.»
Kapitel 10
Das Mädchen öffnete die Augen und sah sich um. Sie lag auf dem Boden einer Hütte, war mit einer Decke bedeckt. Links neben ihr befand sich eine gemauerte Kochstelle, in der ein paar Holzscheite glühten, darüber hing ein Kessel.
Ihr gegenüber war eine Bettstatt aufgerichtet, ein Lager aus Stroh mit einem kleinen Kissen und mehreren Decken, die ihre besten Tage schon hinter sich hatten. Zwischen Bettstatt und Kochstelle stand ein Tisch auf wackligen Beinen, daneben eine Holzbank, gegenüber ein Schemel. Die Wände waren nicht verputzt, sondern zeigten den rauen Lehm und die hölzernen Balken. Nahe der Kochstelle waren auf einem Gestell Netze gespannt. Es roch nach Fisch.
Eine Katze lag in der Fensteröffnung, und von draußen drang das Gackern von Hühnern herein.
Sie hörte Schritte, die sich der Hütte näherten, zog sich die Decke über den Kopf, blinzelte jedoch darunter hervor.
Ein Mann trat ein, sah nach dem Mädchen. «Schläfst du immer noch?», fragte er. Seine Stimme war freundlich und warm.
Vorsichtig kroch das Mädchen unter der Decke hervor. Der Mann lächelte. «Du bist wach. Da bin ich aber erleichtert. Wie geht es dir? Du hast bestimmt Hunger und Durst.»
Das Mädchen nickte, sah zu, wie der Mann Milch aus einer Kanne in einen Becher goss und ihn ihr reichte. Sie trank mit großen Schlucken, nahm das Brot, auf das der Mann Schmalz gestrichen hatte, und biss herzhaft davon ab.
Der Mann zog den Schemel neben ihr Lager, setzte sich, sah ihr beim Essen zu. Zaghaft betrachtete ihn das Mädchen. Er war noch nicht alt. Vielleicht gerade zehn Jahre älter als sie selbst. Seine Haut war trotz der blassen Sonne gebräunt, die Hände rot und rissig.
«Seid … seid Ihr ein Fischer?», fragte das Mädchen leise.
«Ja, das bin ich. Und du kannst Gott danken, dass es so ist. Aus dem Wasser habe ich dich gezogen.»
Das Mädchen nickte.
«Freust du dich denn nicht, dass du noch am Leben bist?»
Der Fischer sah sie so erwartungsvoll, so lobheischend an, dass sie wieder nickte. «Ich danke
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