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Galgentochter

Galgentochter

Titel: Galgentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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sprühte Gold in das Dunkel.
    Die Hebamme versuchte, die Flamme mit der Hand zu schützen, damit der Schnee sie nicht zum Erlöschen brachte. Gleichzeitig folgte sie der Blutspur im Schnee. Von weitem hörte sie einen wilden Hund bellen, der wohl ebenfalls die Blutspur entdeckt hatte.
    Ihr Gesicht war gerötet. Die Schneeflocken, die auf ihr Haar fielen, schmolzen sofort und glitten als Tropfen über ihre Wangen.
    Ab und zu blieb sie stehen, atmete tief und rief nach dem Mädchen. Doch niemand antwortete ihr.
    Da hastete sie weiter. Plötzlich, eine halbe Wegstunde von ihrem Haus entfernt, stolperte sie über eine Erhebung im Schnee. Sie stürzte zu Boden, und die Fackel erlosch.
    Im Dunkeln tastete die Hebamme um sich, bis sie einen menschlichen Körper spürte, der ganz kalt und starr war.
    «Gott sei Dank», murmelte sie und bekreuzigte sich. Dann rüttelte sie an dem Mädchen. «Sag was! Sag was!» Doch das Mädchen blieb stumm.
    Die Hebamme war nicht stark genug, um das Mädchen auf ihren Armen zu tragen. Sie befreite es vom Schnee, nahm ihren Mantel und hüllte das Mädchen darin ein. Dann fasste sie sie an beiden Händen und zog sie hinter sich her. Dabei keuchte und schwitzte die Hebamme wie ein Ochse vor dem Pflug, doch sie gab nicht auf, bis sie das leblose Mädchen zu sich nach Hause geschleift hatte. Dort feuerte sie den Kessel an, füllte den Zuber mit warmem Wasser und setzte das Mädchen hinein. Sofort färbte sich das Wasser rot. Die Hebamme schöpfte mit Eimern die rote Brühe ab, goss sauberes Wasser auf. Endlich fühlte sie, dass die Glieder des Mädchens warm wurden. Sie hielt ihr eine Feder unter die Nase und seufzte erleichtert auf, als diese sich bewegte. Schließlich zerrte sie das Mädchen aus demBad, rieb es trocken, legte es auf ein Schaffell am Boden und kniete zwischen seinen Schenkeln. Als sie die Nachgeburt aus dem Leib des Mädchens geholt hatte, wurde die Blutung schwächer. Sie legte dem Mädchen Stoffstreifen zwischen die Beine, schaffte es in ihr Bett, bedeckte es mit weichen Daunen und brachte einen heißen Ziegelstein, den sie an das Fußende des Bettes legte. Das Mädchen schlief. Im Kerzenschein sah sie mit ihrem marmorblassen Gesicht und den bleichen Lippen aus wie eine Heilige.
    Erst jetzt spürte die Hebamme, wie erschöpft sie war. Sie wusch sich die Hände, löschte alle Lichter im Haus und legte sich zum Mädchen, umfing es mit ihren Armen und war schon bald eingeschlafen.
    Das Mädchen wachte auch am nächsten Tag nicht auf. Ihr Körper fühlte sich heiß an, der Atem ging stoßweise. Ein hohes Fieber hatte sie befallen. Den ganzen Tag über saß die Hebamme an ihrem Bett, machte dem Mädchen feuchtkalte Wickel um die Waden und die Brust, wechselte die Stoffstreifen zwischen ihren Beinen. Am dritten Tag flackerten die Lider des Mädchens, es schlug die Augen auf, sah die Hebamme, lächelte und fiel zurück in den Schlaf. Die Hebamme bekreuzigte sich. Sie ging hinaus, schlachtete ein Huhn und kochte eine fette Brühe daraus. Davon gab sie dem Mädchen löffelweise jedes Mal, wenn es erwachte. Zwei Tage später war das Fieber gesunken. Das Mädchen lag blass und erschöpft im Bett, starrte mit dunklen Augen zur Decke.
    «Willst du mir sagen, was passiert ist?», fragte die Hebamme. Das Mädchen öffnete den Mund, wollte sprechen, doch die Worte fehlten ihr. Sie würgte, rollte mit der Zunge, schob den Unterkiefer vor, brachte krächzende Laute heraus, aber keine Worte.
    Da füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie sieht so verlassen aus, dachte die Hebamme, und auch ihre Augen begannen zu tränen. Sie hielt dem Mädchen die Hand, betrachtete das schmale Gesicht mit den großen, leicht hervorstehenden Augen, die ganz ohne Ausdruck waren, und weinte um das Mädchen, weinte um deren Kind.
    Lange saß sie so, das Mädchen schlief längst wieder, zuckte im Schlaf, stieß grässliche Schreie aus. Die Hebamme streichelte ihr Gesicht, das Haar, hielt die Hand. «Ich wusste nicht», flüsterte sie, «dass es Dinge gibt, die schlimmer sind als der Tod. Hätte ich dein Leiden, deinen Schmerz gekannt, ich hätte dich wohl im Schnee erfrieren lassen. Es tut mir leid, mein Kind. Ich bin eine alte Frau und wusste doch nicht, dass es für manche grausamer ist zu leben, als zu sterben.»
     
    Eine Woche später konnte sich das Mädchen zum ersten Mal im Bett aufrichten. Die Hebamme brachte ihr das weiße Fleisch eines Huhns, welches sie in Milch gekocht hatte. Das Mädchen aß, wenn auch

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