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Galgentochter

Galgentochter

Titel: Galgentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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nur wenig.
    Die Hebamme saß an ihrem Bett, streichelte sie, erzählte ihr Geschichten, die sie von ihrer Mutter wusste oder aus der Kirche kannte. Manchmal stellte sie dem Mädchen Fragen: «Was soll aus dir werden, Kind? Wohin wirst du gehen, wenn du gesund bist?»
    «Am liebsten bliebe ich bei Euch», sagte das Mädchen schließlich leise und vermied es dabei, die Hebamme anzusehen. Sie rappelte sich auf und zog sich an. Im Garten hockte sie sich zwischen die kahlen Beete. Sie lockerte den Boden, befreite den winterharten Liebstöckelbusch von den trockenen Blättern, ging zurück in die Küche und lockerte die Bündel mit getrockneten Kräutern. Als sie fertigdamit war, ging sie zurück ins Bett und schlief erschöpft ein.
    Am Abend brachte die Hebamme erneut gekochtes Huhn. «Verstehe ich dich richtig, Mädchen?», fragte sie. «Du willst mir im Garten helfen? Willst von mir noch mehr über Kräuter lernen?»
    Das Mädchen nickte. Die Hebamme setzte sich auf den Schemel neben das Bett und seufzte. «Gott weiß, dass ich eine Hilfe im Garten brauchen könnte. Mein Rücken, weißt du, er schmerzt bei Tag und bei Nacht. An manchem Tag kann ich mich kaum bücken.»
    Dann lächelte sie, fasste nach der Hand des Mädchens: «Gut. Dann bleib hier. Aber denke nicht, dass dir bei mir die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Du musst arbeiten. Viel arbeiten. Musst dir dein Brot selbst verdienen.»
    Das Mädchen nickte. «Ich will fleißig sein.»
    Als der Frühling kam, stand sie jeden Tag im Garten, hegte und pflegte die Pflanzen, als ob es Kinder wären. Manchmal ging ihr Blick hinüber zum Pfarrgarten, wo sie hin und wieder eine junge Frau sah, die sich um die Pflanzen kümmerte. Einmal hatte sie sogar den Pfarrer im Garten gesehen. Sie hatte sich aufgerichtet, und er hatte sie angeblickt. Angeblickt, als kennte er sie nicht, hätte sie nie zuvor gesehen. Er nickte ihr sogar gleichgültig zu, bevor er wieder im Haus verschwand. Das Mädchen stand starr, stierte auf die Tür, die sich hinter dem Pfarrer geschlossen hatte. Ihr Mund formte lautlos das Wort «Mörder». Dann begann sie zu zittern. Zuerst mit der Unterlippe, dann die Hände, schließlich wurde der ganze Körper wie im Fieber geschüttelt. Die kleine Hacke fiel ihr aus der Hand, und sie biss sich auf die Unterlippe, dass sie blutete.
    Erst als die Hebamme kam, das Mädchen am Arm ins Haus führte und ihr Tropfen von Baldrian und Johanniskraut gab, wurde sie ruhiger. Die Hebamme nahm die Hand des Mädchens, strich behutsam darüber: «Du hast viel mitgemacht in deinem Leben», sagte sie leise. «Ich bete, dass sich dein Herz nicht verhärtet hat. Ich bete für deine Seele. Und für die deines Kindes.»
    Da wurde der abweisende Blick, den das Mädchen auf die ältere Frau gerichtet hatte, weicher und flehend. Die Hebamme verstand. Sie war schon lange auf der Welt, hatte viel gesehen, zahlreiche Menschen gekannt. Sie wusste, was das Mädchen meinte mit ihrem Blick, der so verzweifelt und voller Hoffnung zugleich auf ihr ruhte.
    «Ich habe ein paar Blumen auf das Grab deines Kindes hinter der Friedhofsmauer gepflanzt», sagte sie und strich dem Mädchen über die Wange. «Vergissmeinnicht.»
    Da wurde der Blick des Mädchens klarer. Sie fasste nach der Hand der Hebamme. «Danke», flüsterte sie.
     
    Manchmal kamen Leute in das Haus der Hebamme. Dann musste das Mädchen im Keller verschwinden. Dort gab es einen Raum, der dunkel und kühl war und zum Aufbewahren der Kräuter und Tränke diente.
    Die Leute, die im Schutz der Dämmerung in das Haus der Hebamme kamen, waren nicht aus der Vorstadt. Sie waren gut genährt, ihre Kleidung gepflegt, bei manchen sogar recht kostbar. Es waren Städter, die nur selten einen Fuß in die Vorstadt setzten. Das Mädchen verbarg sich hin und wieder hinter der Kellertür, die aus groben Latten genagelt war und durch deren breite Ritzen sie in die Küche sehen und hören konnte, was die Hebamme mit den Leuten aus der Stadt zu schaffen hatte.
    Die Städter raunten der Hebamme etwas ins Ohr. Die Hebamme nickte, holte aus einer stets verschlossenen Truhe ein Säckchen oder ein Tonfläschchen, das mit einem Holzstopfen verschlossen war, und reichte es den Leuten. Die wühlten mit leuchtenden Gesichtern in ihren Geldkatzen und legten glänzende Münzen auf den Tisch. Immer kamen sie in der Abenddämmerung, wenn die Gassen der Vorstadt leer waren. Sie kamen, kurz bevor die Stadttore geschlossen wurden. Sie kamen allein oder zu zweit,

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