Galgentochter
Derf isch jetzt gehe?»
Die Unterschriften, bestehend aus dem Namen des Richters und den drei Kreuzen des Tagelöhners, zeigten an, dass die Aussage richtig zu Protokoll genommen worden war.
Hella legte die Papiere wieder so hin, wie sie sie vorgefunden hatte, und stützte das Kinn in die Hand. Sie schaute ins Leere, kaute ein wenig auf ihrer Unterlippe herum. Lange saß sie so. So lange und so in Gedanken versunken, dass sie die Heimkehr ihres Mannes nicht bemerkte. Erst als die Kerzenflamme vor ihr in einem Luftzug flackerte, schrak sie hoch und sah Heinz vor sich stehen.
«Ich … ich … wollte, ich habe …»
Heinz hatte eine Hand in die Tasche seines Wamses gesteckt und spielte dort mit dem Schlüssel, der draußen gesteckt hatte und ihm nicht gehörte.
«Ich weiß, was du wolltest und hast», erwiderte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
«Du siehst müde aus», stellte Hella fest.
«Das bin ich auch, mehr als das. Der Zweite Bürgermeisterhat mir aufgetragen, die Fälle so schnell wie nur möglich zu lösen. Der Landgraf Philipp I. von Hessen hat seinen Besuch beim Rat angekündigt.»
«Wann kommt er, der Großmütige?»
Heinz zuckte mit den Achseln. «Genau hat er sich nicht festgelegt. In zwei bis drei Wochen, meinte der Bürgermeister. Wenn der Landgraf erfährt, dass wir hier eine Mordserie haben, die wir nicht aufklären können, so wird er uns seine Leute aus Kassel oder Marburg schicken. Die aber wiederum könnten natürlich Spitzel des Landgrafen sein, die die Gelegenheit, ungestraft in den Akten der Stadt Frankfurt wühlen zu dürfen, nicht ungenutzt lassen werden. Frankfurt ist eine freie Reichs- und Messestadt. Wir sind dem Landgrafen zu nichts verpflichtet. Aber der will ja seit Jahren den Beitritt Frankfurts zum Schmalkaldischen Bund erzwingen.»
Hella winkte ab. «Das Politische interessiert mich nicht.»
«Kurz und gut: Der Fall muss so schnell wie möglich gelöst werden.» Und leiser fügte er hinzu: «Aber ich habe keine Ahnung, wie.»
«Setz dich», bat Hella. «Und höre mir zu. Ich habe mir den ganzen Abend lang Gedanken gemacht.»
Der Richter runzelte die Stirn. «Du weißt, ich mag es nicht, wenn du in meinen Akten wühlst.»
«Ja, ja. Also. Hörst du zu?»
Der Richter nickte.
«Als Erstes solltest du auch die unbewachten Seitenpförtchen in der Stadtmauer, die hinaus zum Galgenberg führen, überwachen lassen. Irgendwie muss der Mörder die Toten ja auf den Galgenberg bringen. Dann solltest du …»
«Warte!», unterbrach der Richter seine Frau. «Ich möchte mir deine Vorschläge notieren.»
Als er Hellas Lächeln sah, brummte er unwillig. «Ich möchte lediglich noch einmal in Ruhe darüber nachdenken. Mehr nicht. Du kannst fortfahren.»
«Aha, nachdenken. Nun also, du solltest bei der Gelegenheit dann auch darüber nachdenken, ob du einem Leichenbeschauer den Toten zeigst.»
«Einem Leichenbeschauer? Warum das denn? Unser Kaiser Karl V. hat erst zu Beginn dieses Jahres ein Gesetz unterzeichnet, in dem ausdrücklich angeordnet wird, dass ein Medicus die Leichenschau vornehmen soll. Wie du weißt, ist seit diesem Jahr eine neue Gesetzgebung, auch Constitutio Criminalis Carolina genannt, in Kraft.»
Hella winkte ab. «Das hat der Medicus ja auch getan. Ich habe sein Protokoll gelesen. Der Medicus ist noch jung. Viele Erfahrungen mit Ermordeten wird er nicht haben. Die Leute lassen ihn rufen, wenn sie Kopfschmerzen und Fieber haben. Der alte Leichenbeschauer aber hatte jahrzehntelang mit Toten zu tun. Vielleicht entdeckt er Dinge, die der Medicus übersehen hat.»
Bei diesen Worten zog ein Strahlen über Heinz Blettners Gesicht, aber als Hella hochsah, räusperte er sich und zog die Stirn in Falten. «Der Leichenbeschauer. Soso. Ich werde darüber nachdenken. Hast du sonst noch was?»
Hella schüttelte den Kopf. «Nein, nichts. Nur Fragen.»
Der Richter nahm ein kleines Messer aus einer Schublade und spitzte die Schreibfeder an. «Lass sie hören, deine Fragen. Womöglich kenne ich die Antworten. Aber», er ließ die Schreibfeder sinken und hob den Zeigefinger. «Schon die alten griechischen Philosophen meinten, dass die richtigen Fragen der erste Schritt zur Lösung sind.»
«Fein», erwiderte Hella und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. «Ich frage mich, was die drei Toten wohl miteinander verbunden hat. Es gibt eine Person, den Mörder nämlich, der alle drei kannte. Wer also kann eine Wanderhure, einen Vorstadtpfarrer und einen
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