Galgentochter
trat er zu ihr, griff unter ihr Kinn, zwang ihren Blick in seinen. Schon hing sie wieder an Fäden. Sanft strich er mit der Hand über ihre Wange, fuhr mit dem Zeigefinger über ihre Augenbrauen, über die Lider, den Nasenrücken, zeichnete die Lippen nach. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen und begann leicht zu zittern.
Da ließ er sie los und trat zurück, um sie zu betrachten. «Du bist wirklich ein Geheimnis, stummes Mädchen. Ein Geheimnis, das ich gern ergründen möchte.»
Von nebenan rief die Glocke der Kirche zum Abendgebet. Der Mann zuckte leicht zusammen. «Gleich werden die Stadttore geschlossen. Ich muss zurück.»
Das Mädchen öffnete die Augen. Dann holte sie das kleine Fläschchen aus der Tasche ihres Kleides und stellte es auf den Tisch.
«Für mich?», fragte der Mann.
Das Mädchen schob das Fläschchen näher an den Mann heran.
«Wie viel bin ich dir dafür schuldig?», fragte er.
Sie hob lächelnd die Schultern.
Die Kirchenglocken hatten aufgehört zu läuten. «Ich muss mich eilen.» Der Mann steckte das Fläschchen in die Tasche seines Wamses. Erst jetzt bemerkte das Mädchen, wie vornehm er gekleidet war. Als der Mann ihren Blick bemerkte, verbeugte er sich ein wenig.
«Ich heiße Sebastian», sagte er. «In der Stadt lebe ich und bin dort ein Kaufherr. Und du?»
Das Mädchen hob wieder die Schultern, ging ihm voran zur Haustür. Bevor sie öffnen konnte, trat der Mann zu ihr, umfasste mit beiden Händen so sanft ihr Gesicht, als hielte er eine kostbare Vase darin. «Ich komme morgen wieder», sagte er leise, «und bringe der Hebamme ihr Geld. Wirst du da sein?»
Das Mädchen nickte. Da zog ein Lächeln über das Gesicht des Mannes, der kein Junge mehr, aber trotzdem noch jung war. Dann machte er sich los und ging.
Das Mädchen stand unter der geöffneten Haustür und sah zu, wie er sein Pferd bestieg. Wenn er sich umdreht und mir winkt, dachte sie, ist alles gut. Für einen Augenblick fiel ihr der Fischer ein, welcher der Erste gewesen war, der sie gegrüßt und ihr gewunken hatte. Aber das schien dem Mädchen unendlich lange her. Fast wie aus einem anderen Leben.
Sie wollte sich gerade umwenden und zurück ins Haus gehen, als der Mann den Kopf nach ihr drehte, die Hand hob und winkte. Das Mädchen riss den Arm nach oben und winkte zurück. Freude durchströmte sie. Ganz warm wurde ihr. Als sie in die Küche zurückging, summte sie ein Lied vor sich hin.
«Er war also da und hat die Tinktur mitgenommen?», fragte die Hebamme am nächsten Morgen. Sie war erst spät in der Nacht heimgekehrt und wirkte auch jetzt noch erschöpft. Ihre Haut war blass, die Augen dunkel verschattet, der Blick betrübt.
«Ja, er war da. Er nahm das Fläschchen und sagte, er werde heute noch einmal wiederkommen. Wie ist es Euch ergangen? Habt Ihr das Kind gesund auf die Welt geholt?»
«Das Kind ist gestorben», erwiderte die Hebamme. «Ein Mädchen war es. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals gelegt. Bei der Geburt hat sie sich daran aufgehängt. Ich habe sie nottaufen müssen.» Die Hebamme seufzte. «Es ist grauenhaft, wenn mir die Kinder unter den Händen wegsterben. Die Frau, es ist die Frau des Stöckers, hat bis zum letzten Augenblick draußen auf dem Feld gearbeitet. Wäre sie reich gewesen und hätte sich schonen können, würde ihr kleines Mädchen noch leben.» Sie schlurfte zur Vorratskammer, goss sich einen Becher Milch ein.
«Er war also da», nahm sie das Gespräch wieder auf. «Er war da, hat die Tinktur mitgenommen und kein Geld dagelassen.»
Das Mädchen nickte. «Am frühen Abend kommt er, hat er gesagt. Dann bringt er das Geld.»
Die ältere Frau betrachtete sie und fragte: «Du siehst so anders aus heute Morgen. Deine Wangen sind gerötet, die Augen glänzen. Was ist geschehen?»
Das Mädchen hob die Schultern, wiegte den Kopf von links nach rechts.
«Hat er dir gefallen, der Patrizier aus der Stadt?», wollte die Hebamme wissen.
Das Mädchen senkte den Blick und spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss.
Da sprang die Hebamme auf, rüttelte sie an der Schulter.
«Lass die Augen von dem Mann. Er ist nichts für dich. Ein reicher Patrizier ist er, ein Kaufmann und von altem Geschlecht. Er will mit dir spielen, dich benutzen und dann wegschmeißen wie einen alten Lumpen. Bleib weg von dem. Ich rate es dir.»
Das Mädchen stampfte mit dem Fuß auf, ballte die Fäuste und schüttelte trotzig den Kopf.
«So glaub mir doch», sprach die Hebamme. «Schon viel
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