Galgentochter
Gustelies ungerührt. «Dann tragt ihr die Böcke und das Holzbrett, auf dem die Leiche liegt, hinaus und habt so das beste Licht der ganzen Welt und wenig Mühe.»
Der Leichenbeschauer schaute Gustelies belustigt an. «Ihr habt Euch nicht verändert», sagte er. Dann wandte er sich zum Richter: «Ihre Gegenwart war mir stets sehr angenehm. Natürlich hielt ich das – ebenso wie Ihr – vor der Öffentlichkeit geheim. Doch ihre Einfälle schätze ich sehr. Lasst es uns machen, wie die Richterswitwe es vorgeschlagen hat.»
Gustelies verkniff sich ein triumphierendes Lächeln, um ihren Schwiegersohn nicht noch mehr aufzubringen. Der Scharfrichter stapfte erleichtert zu seinem Wohnhaus und trug seiner Frau auf, die Wäsche aufzuhängen.
Kurze Zeit später bewegten sich Bett- und Tischtücher sachte im Frühlingswind, während die Männer den Bock, das Brett und die Leiche vorsichtig nach draußen brachten.
Dann machte sich der Leichenbeschauer an die Arbeit. «Wann genau habt Ihr ihn gefunden?», fragte er.
«Vorgestern Abend.»
Der Richter wurde blass und wandte sich ab, denn der Leichnam verströmte bereits jenen Geruch nach Verwesung, der nicht nur in die Nase, sondern auch in Kleidung, Haare und Haut drang und den man, einmal nur gerochen, sein Lebtag nicht wieder vergaß. Während der Leichenbeschauer den Toten umrundete, ihm die Lider von den Augäpfeln zog, die Iris betrachtete, mit dem Handrücken über den toten Leib fuhr und am Kiefer, den Armen und Beinen rüttelte, gab er Erklärungen ab. «Es gibt drei besondere Merkmale, die jeder Tote aufweist. Das erste nennt man lateinisch ‹rigor mortis›, was ‹Muskelstarre› bedeutet. Diese allmähliche Starre beginnt schon wenige Stunden nach dem Tod und befällt nach und nach alle Muskeln. Dazu kommt ‹algor mortis›, das langsame Abkühlen des Blutes.Das dritte, ‹livor mortis›, ist bei diesem Toten für uns das interessanteste. Wenn das Blut nämlich abkühlt und nicht mehr durch den Körper fließt, so sackt es ab und hinterlässt auf dem Körper des Toten Flecke.»
Der Leichenbeschauer sah auf den nackten Leichnam, dessen Körpermitte züchtig mit einer Bruche bedeckt war. Dann sprach er weiter und wandte sich insbesondere an den Richter: «Ansonsten gilt immer: Ist der Körper warm und sind die Muskeln beweglich, so erfolgte der Tod vor wenigen Stunden. Ist die Leiche warm und steif, so ist sie seit einer Tages- oder Nachtspanne tot. Zwölf bis achtundvierzig Stunden vorher ist der Tod eingetreten, wenn sich der Körper kalt und steif anfühlt. Dieser hier ist kalt, die Muskeln nicht mehr steif, also ist der Tod vor mehr als zwei Tagen eingetreten.»
Er lachte ein wenig. «Aber das habt Ihr ja schon ohne mich herausbekommen.»
«Halt!», rief der Richter. «Wiederholt das noch einmal, bitte.»
«Kalt und nicht mehr steif bedeutet den Eintritt des Todes vor mehr als zwei Tagen», wiederholte der Leichenbeschauer.
«Woher wisst Ihr das?», fragte der Richter und runzelte streng die Stirn.
«Das habe nicht ich herausgefunden, sondern schon die alten Griechen. Ihre These ist seit Jahrhunderten bestätigt. In jeder guten Klosterbibliothek und jeder Universität mit einem medizinischen Zweig werdet Ihr Literatur darüber finden.»
Der Richter nickte, holte eine Wachstafel heraus und notierte sich etwas darauf. Als er Hellas Blick sah, lächelte er. «Ich habe unterwegs immer eine Wachstafel dabei.Meine Frau findet das altmodisch. Aber wie soll ich zum Beispiel hier auf Papier schreiben? Eine Wachstafel bietet viel mehr Halt.» Er notierte sich etwas, dann fragte er weiter: «Wenn wir den Toten vorgestern Abend, also vor gut sechsunddreißig Stunden gefunden haben, dann heißt das ja, dass der Mann zu diesem Zeitpunkt wenigstens zwölf Stunden tot war?»
«Das ist richtig», bestätigte der Leichenbeschauer. «Außerdem weist der Tote eine sichtbare Rötung von Mund, Nase und Bauch auf, was ebenfalls einen Hinweis darauf gibt, dass der Tod vor zwei bis drei Tagen eingetreten ist.»
«Kann er auch schon länger tot sein?», fragte Hella.
Der Leichenbeschauer schüttelte den Kopf. «Die Verwesung wäre dann schon weiter fortgeschritten. Der Tote würde stärker riechen. Nach zehn Tagen tritt aus Ohren und Nase eine stinkende Flüssigkeit, aber hier ist alles trocken. Das Wichtigste an dieser Leiche sind jedoch die Leichenflecke. In welcher Haltung wurde der Tote gefunden?», fragte er.
«Auf dem Rücken liegend mit ausgebreiteten Armen und
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