Galgentod
stellte Schnur schnell fest und folgte dem Kollegen über eine Treppe, die sie durch einen Spalt in der alten Mauer erreichten, nach oben.
Dort trafen sie auf Dr. Thomas Wolbert, den Gerichtsmediziner, und Dr. Ralf Wedick, den Entomologen.
Und auf die Leiche.
Sie hing immer noch an der Eisenstrebe festgebunden.
Die Männer hatten auf Jürgen Schnur gewartet, damit er ihnen grünes Licht gab, die Leiche loszubinden und vom Fundort zu entfernen.
Nur zögernd näherte sich Schnur. Er konnte nur einen blicklosen Schädel erkennen, an dem vertrocknetes, braunes Gewebe hing. Eine Schlinge lag um den Hals der Leiche. Die Augen waren total verschwunden. Der Mund bestand nur aus einem klaffenden Loch.
Keine Zähne.
»Wo sind die Zähne?«, frage Schnur erschrocken.
»Hier«, rief Dr. Wolbert und zeigte auf ein Gebiss, das vor der Leiche auf dem Boden lag.
»Was ist das zwischen den Zähnen?«
»Wir vermuten, ein Knebel«, antwortete der Gerichtsmediziner. »Es ist ein tennisballgroßer Stoffklumpen, der mit Klebeband befestigt war.« Dabei zeigte er auf ein braunes Etwas, das Schnur beim besten Willen nicht als Klebeband erkennen konnte.
»Lag der Knebel samt Klebeband schon auf dem Boden, als die Leiche gefunden wurde?«
»Ja.«
»Wie ist das möglich? Das Opfer ist doch gefesselt – immer noch.«
»Es sieht aus, als sei es abgerissen worden. Nach den Spuren zu urteilen, von den Raben, die vermutlich auch die Augen aus den Höhlen gepickt haben.«
»Klingt echt übel!«
»Wenn wir gerade bei übel sind«, meinte Wolbert mit düsterer Stimme, »dann zeige ich dir, welche Konstruktion der Täter gewählt hat, um auf Nummer Sicher zu gehen, dass das Opfer auch wirklich stirbt.«
Schnur hatte Mühe, sich nicht zu übergeben, als Wolbert die tote Frau umdrehte und dadurch eine Strickkonstruktion auf ihrem Rücken sichtbar machte.
»Was ist das?«, fragte er.
»Sie hat eine Schlinge um den Hals, die mit den Fesseln an den Händen verbunden ist.«
Schnur bekam große Augen.
»Mit jeder Bewegung, die sie gemacht hat, um sich von den Fesseln an den Händen zu befreien, hat sie die Schlinge um ihren Hals enger zugezogen.«
»Also ist sie erstickt?«
»Vermutlich. Genaueres aber … du weißt schon, nach der Autopsie.«
Schnur drehte sich weg und atmete tief durch.
Erik gesellte sich zu ihm und meinte leise: »Du wirst doch wohl nicht …«
»Ich bemühe mich«, knurrte Schnur und schluckte immer heftiger.
»Was ist? Bei deiner Berufserfahrung wirst doch wohl den Anblick einer Leiche wegstecken können.«
»Den Anblick einer Leiche ja – den Anblick dieser Leiche …« Schnur schnaufte, bis er weitersprechen konnte: »Wir haben gestern die Raben gehört und nichts geahnt.«
»Wie hätten wir etwas ahnen können?«, fragte Erik. »Das Gelände der Burg war abgesperrt. Wie konnten wir wissen, dass trotzdem jemand dort war – wenn auch unfreiwillig?«
Schnur ging einige Schritte auf und ab, bis er sich wieder beruhigt hatte. Dann wandte er sich an den Entomologen und fragte: »Sagen uns die Maden etwas darüber, wie lange sie schon tot ist?«
Dr. Wedick warf einen prüfenden Blick auf die Tote und meinte: »Die Temperaturen sind für Schmeißfliegen günstig, was ich meinen Berechnungen hinzufügen muss. Dazu kommt, dass bei uns immer ein gewisser Grad an Luftfeuchtigkeit herrscht, wodurch die Leiche langsamer austrocknet. Denn sobald eine Mumifizierung stattgefunden hat, haben die Schmeißfliegen keine Chance mehr. Dann kommen die Käfer, zum Beispiel die Speckkäfer, die Totengräberkäfer …«
»Danke für die anschaulichen Ausführungen«, unterbrach Schnur und fragte hastig weiter: »Können Sie nicht einfach eine Zeitangabe machen?«
»Nein. Dafür habe ich etwas gefunden, was ich genauer untersuchen will.«
»Und was?«
Mit hektischen Bewegungen packte er einen langen Stab aus seiner Tasche, wobei ihm gleichzeitig weitere Utensilien herausfielen und über den Boden kullerten. Hastig sammelte er alles wieder ein und stopfte es in die Tasche zurück.
Schnur übte sich in Geduld, wusste er doch, dass Dr. Wedick für seine Hyperaktivität bekannt war.
Dann zeigte der Entomologe mit dem Stab auf eine Stelle auf der linken Brust, an der noch Gewebe hing, das mumifiziert aussah. Das Ende des langen Stabs traf auf ein kreisrundes Loch. Die Ränder wirkten ausgefranst, als handelte es sich um einen aufgesetzten Schuss.
»Ich verstehe«, murmelte Schnur, ohne das Geringste zu verstehen.
»Ach
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