Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)
«hinterherzuschlurfen», wie Sal Paradise es in Unterwegs tut, alles aufzuzeichnen und nicht, sich hineinzustürzen, eher die sagenhaften, göttlichen, unerklärbaren Dinge einer Welt zu beobachten, zu der er nie Zugang fand. Er spielte immer die Rolle des «Normalbürgers», beobachtete Snyder, desjenigen, der in ein Varieté geriet und darin herumstolperte, der nicht der Star war, sondern die zweite Geige spielte. Für diese Rolle war Kerouac prädestiniert.
Die Kerouacs waren aus Kanada eingewanderte Arbeiter und Frankokanadier mit einem Schuss Irokesenblut, von den Bewohnern Lowells abschätzig «Kanucken» genannt. Obwohl Leo und Gabrielle schon vor Jacks Geburt am 12. März 1922 eingewandert waren, wuchs «Ti-Jean», wie er genannt wurde, als Außenseiter auf, Teil einer Parallelkultur, die durch und durch katholisch war und in der nur Französisch gesprochen wurde, und selbst das nicht fehlerfrei. Bei den Kerouacs wurde «Joual» gesprochen, ein regionaler, größtenteils mundartlicher Dialekt. Kerouac ging schon auf die 20 zu, als er Englisch endlich beherrschte, und in der Highschool fiel er in Französisch glatt durch. Als er 1965 eine ebenso fruchtlose wie alkoholgeschwängerte Reise nach Frankreich unternahm, um seine Vorfahren ausfindig zu machen, war er empört herauszufinden, dass sämtliche diesbezüglichen Akten durchaus zutreffend mit «Kolonialangelegenheiten» beschriftet waren. Auch im Kreis seiner Familie spielte Kerouac nur die zweite Geige; wie groß seine Begabungen auch waren, seinem älteren Bruder Gerard, der in seinem Leben nichts anderes als Schmerzen gekannt hatte und 1926, im Alter von neun Jahren, an rheumatischem Fieber gestorben war, konnte er einfach nicht das Wasser reichen. Der Familie und auch den Ortsansässigen zufolge war Gerard nicht nur ein zukünftiger Künstler, sondern ein Heiliger, der Marienvisionen hatte und dem vor Gesundheit strotzenden Ti-Jean sprachgewandte kleine Predigten über das Leiden und die Heiligkeit auch noch der kleinsten von Gottes Kreaturen hielt. Den Rest seines eigenen Lebens betete Jack für Gerard – all seine Unternehmungen hatten auch eine rückwärtsgewandte Seite, die Suche nach, wie er selbst es nannte, seinem verlorenen «mysteriösen Bruder … quer durch die Zeiten». Gerard musste auch als beredter Beweis für die Kräfte des Todes und des Seins dienen, sowohl praktisch als auch spirituell, so wie Kerouac in Mexico City Blues schrieb: «… frei von der Mühsal des fleischlichen Rads … sicher im Himmel tot.» Und obwohl Kerouacs Aussichten zunächst verheißungsvoll, ja anfänglich sogar spektakulär waren, konnte er dieser Argumentation niemals etwas Adäquates entgegensetzen.
In der Highschool hatte Kerouac noch hervorragende Leistungen gezeigt, war ein Ass in drei Sportarten gewesen und fing 1941 mit einem Sportlerstipendium an der Columbia University an zu studieren. Seine Hingabe ans Schreiben, das er früh für sich entdeckt hatte, geriet nie ins Wanken, aber wenn es um die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs ging, erlahmte sein Enthusiasmus schnell. Seine Berufung wurde es, so wie während des Zweiten Weltkriegs, als er erst an der Columbia University und dann auch bei der Kriegsmarine hinwarf, auszusteigen und ab zusteigen: in die brodelnden Jazzschuppen von Harlem, wo der Bebop, wie Langston Hughes schrieb, «um Mitternacht gegen Kaution von der Leine gelassen wurde», hinab in die Spelunken und rund um die Uhr geöffneten Cafeterien am Times Square, durch die sich eine Halbwelt von Abzockern, Drogensüchtigen, Zuhältern und visionären Verlierern schob und die Gefahren und Gewalten eines Lebens im Verborgenen auskundschaftete. Im Juli 1947 zog Kerouac los in Richtung Westen, um auf der Straße den Kontinent neu zu entdecken und seine Geheimnisse von jenen zu erfahren, denen eher selten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gilt. Die Aufgabe, eine Chronik seiner Zeit zu erstellen, bewältigte Kerouac mit Hilfe jener ihm eigenen kulturellen übersinnlichen Wahrnehmung, eine Fähigkeit, «den Finger am Puls der Zeit zu haben», die Snyder so bewunderte. Er erfasste als Erster die subtilen Zeichen, mittels derer populäre Trends historische Veränderungen signalisieren: So trugen zum Beispiel plötzlich viele Männer schwarze Lederjacken und weiße T-Shirts, und gleich nach dem Krieg gerieten Haute-Couture-Models in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit. Mit Gary Snyder erging es ihm wie mit Neal Cassady, dem realen
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