Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)
Vorbild für Dean Moriarty, dem jugendlichen Delinquenten aus Denver, dem überschwänglichen Hochstapler, unerbittlichen Schürzenjäger und aufgedrehten Helden aus Unterwegs , der eine knappe Dekade früher an seine Tür geklopft hatte – auch jetzt war ihm klar, dass er mit Snyder den nächsten, den kommenden Typus vor sich hatte. Und wie bei Neal wurde auch Gary ihm gleichwohl zum Romanmaterial wie auch zum Seelenfreund.
Sowohl Cassady als auch Snyder waren Rebellen, die nicht die breiten Durchgangsstraßen des amerikanischen Lebens im Auge hatten, sondern die Umleitungen und Ausfahrten hin zu Gegenden, wo inmitten des atemberaubenden Wohlstands der reichsten und historisch gesehen erfolgreichsten Nation der Geschichte noch immer die Große Depression nachklang, für Kerouac, Cassady und Snyder gleichermaßen heiliges Terrain. In Unterwegs gibt es eine Szene, in der Sal Paradise an der Straße steht und den Daumen raushält und ein Wagen mit Teenagern flitzt an ihm vorbei, die «Wir haben gewonnen! Wir haben gewonnen!» brüllen. Und Sal sagt: «Ich hasse jeden Einzelnen von ihnen.» Es ist keine große Überraschung, dass Snyder und Cassady nie Freunde wurden, obwohl ihre Freundeskreise sich zu großen Teilen überschnitten. Beide waren ihrer Zeit voraus, wobei Cassady den häufig am Rande der Legalität agierenden Hipster vorwegnahm, der in Filmen der Fünfziger über zahllose Leinwände flimmerte, die das Thema Jugendrevolte ausbeuteten. Snyder hingegen repräsentierte die ökologisch orientierte ‹Woodstock Nation› der Sechziger, die es ablehnte – mit Japhy Ryders Worten –, «in einem System von Arbeit, Waren, Konsum, Arbeit, Waren, Konsum … gefangen zu sein».
Wie Kerouac war Cassady katholisch und konnte wortwörtlich aus der Bibel zitieren, während Snyder Buddhist war, der den Theismus hinter sich gelassen hatte und die Bibel und ihren anthropomorphen Blick auf die Schöpfung mit für die Zerstörungen verantwortlich machte, die die Menschheit auf der Erde angerichtet hatte. Cassady war ein Autodidakt, dessen politisches Verständnis nicht viel weiter reichte, als dass er versuchte, jedes Gesetz, das seinem ungeheuren Bewegungsdrang in die Quere kam, zu umgehen oder zu überlisten. Snyder war ein gut erzogener und wortgewandter Intellektueller, der sich auf die sterile Kommunismus-gegen-Kapitalismus-Debatte jener Jahre eingelassen hatte und darüber zum Anarchisten wurde. Für ihn waren die weltbeherrschenden Nationalstaaten «monströse Schutzgelderpresser», Sinnbilder einer «durch monopolisierte Gewalt legalisierten Gier». Cassady kam aus einfachen Verhältnissen und arbeitete unregelmäßig, aber hart bei der Southern Pacific Railroad, um seine Familie zu ernähren. Snyder war stolz darauf, zu jener kleinen Gruppe Menschen zu gehören, die «[sich] freiwillig von jenem ‹amerikanischen Lebensstandard› abgekoppelt hat». Cassady war die personifizierte Triebhaftigkeit; Snyder war der Ansicht, dass exzessive Begierde, ob nach materiellen Gütern oder erkenntnistheoretischer Sicherheit, die Quelle jeglichen Leidens waren. Cassady war lange Zeit ungestümen Stimmungsschwankungen ausgesetzt, und die Aufputschmittel, von denen er im Laufe der Jahre abhängig wurde, trugen nur zu seiner Verwirrung bei; er starb im Februar 1968 kurz vor seinem 42. Geburtstag auf einem Bahngleis in Mexiko. Jene Art zu leben, von der Kerouac einstmals gehofft hatte, sie würde in der amerikanischen Literatur ein neues Zeitalter einläuten, hatte er längst aufgegeben. Snyder dagegen wusste, wie man komplexe Widersprüche in ein Ethos von kristalliner Klarheit und Härte fasst; er schreibt noch heute.
Die besten Tage von Kerouacs Freundschaft mit Cassady waren 1955 längst Vergangenheit. Im Frühling jenes Jahres schrieb er an Cassadys Frau Carolyn von den «guten Zeiten, als Neal mich noch achtete». «Irgendwas ist passiert, und alle haben sich verändert», merkte er traurig an. Bei der legendären Six-Gallery-Lesung am 13. Oktober 1955, über die in Gammler, Zen und hohe Berge berichtet wird und die die San Francisco Renaissance begründete, wo Ginsberg zum ersten Mal aus Howl las und ihm Gary Snyder mit A Berry Feast auf der Bühne folgte, war Kerouac zu gehemmt, um selber zu lesen. Stattdessen versorgte er das Publikum mit Wein aus Glasballons und feuerte es mit seinen «Go!»-Rufen an. Jeder der an diesem Abend Anwesenden wusste, dass ein neues Zeitalter angebrochen war. «Wir wussten, von hier aus
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