Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
mir vorbei, und einmal schrecke ich einen Storch auf, der sich neben dem Asphalt im hohen Gras niedergelassen hat. Das sind die bescheidenen Highlights langer Stunden.
Der Regen prasselt monoton auf die Kleidung, meine Seele verkriecht sich in ein kleines Zelt und wünscht sich über die Grenze ins Elsass. Doch vorher habe ich eine Nacht an der A65 zu überstehen. Zwischen Globus-Baumarkt und Mercedes-Benz-Werk – in der Sorte Hotel, in der die Abflüsse der Waschbecken gelbe Krusten haben – narkotisiere ich mich mit Dosenbier und führe zur Geisterstunde einen leidenschaftlichen Kampf gegen eine fette Kreuzspinne.
Am nächsten Tag dusche ich das letzte Mal mit Tricky Ricky, einem glitschigen rosafarbenen Freund, der mich seit Buxtehude begleitet. Wenn es etwas gibt, das Deutschland vereint, dann ist es diese preiswerte Flüssigseife. Anscheinend bietet jedes zweite mittel- und unterklassige Hotel der Republik keine Fläschchen mit Shampoo und Shower Gel mehr an, die sowieso nur geklaut werden, sondern hängt einfach große beigefarbene Plastikspender mit Tricky Ricky in die Duschkabinen. Heute Morgen zieht eine ganze Tricky-Ricky-Wolke über das Orangensaftkonzentrat, die ölige Cervelatwurst und den Scheiblettenkäse am Frühstücksbuffet. Es riecht nach Jasmin, ehrlicher Arbeit und Provinz.
Am Mittag aber duftet es endlich nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Flammkuchen. Den Schritt über die Grenze hätte ich fast nicht bemerkt. Irgendwo auf dem Rheindamm zwischen Wörth und Lauterbourg steht ein geringelter Pfahl, das war’s. Kein Zoll, kein Schlagbaum, kein Soldat, keine Minen, keine Heckenschützen – Europa ist eine großartige Idee. Ob ich schon mal in Frankreich war? Nein, nur in Paris. Vielleicht bewege ich mich deshalb noch etwas zaghaft, so als würde ich über rohe Wachteleier wandern.
Wie werden die Grenzfranzosen mich alte Wanderhure empfangen? Und wie soll ich mit den Leuten reden – auf Deutsch oder Französisch? Man hört ja, die Elsässer seien etwas speziell, und ich möchte mich nicht gleich unbeliebt machen. Zunächst bekomme ich nur wenige Exemplare zu sehen, ausschließlich Männer, die meisten aus der Ferne. Manche angeln im Nieselregen, manche sitzen in ihren Kleinwagen am Ufer, lesen Zeitung oder schlafen. Einer steht neben einem Hähnchenbräter und telefoniert: «Jo des hob ich do scho uffgeschriebe! Mini Zahn spiele mir Klovier im Orsch! À tout à l’heure!» Und dieses «À tout à l’heure», «Bis gleich», spricht er so herrlich deutsch aus, ohne jeglichen Versuch, richtig zu betonen, und alles in einem Wort: «Atutalöhr!» Keine Ahnung übrigens, was es bedeutet, wenn die eigenen Zähne im Allerwertesten Klavier spielen.
So oder so ähnlich klingt also Elsässisch. Ein Dialekt, der in dieser Region irgendwo zwischen Französisch und Pfälzisch zu liegen scheint. Die Pariser nennen ihn «primitiv», die Elsässer «würzig», ich würde ihn «direkt» nennen. Angeblich geht Elsässisch auf einen calvinistischen Mönch mit satirischer Ader zurück, der sich dem «Grobianismus» verschrieben hatte: Er verfasste mehrseitige Abhandlungen über das Furzen. Muss ich noch mehr dazu sagen? «Seele, bück dich, jetzt kommt ein Platzregen!», hat dieser weise Mann einmal getextet, und treffender könnte man meine Situation kaum beschreiben. Äußerlich: Ich bin völlig durchgeweicht, es gießt mittlerweile wie aus Kübeln. Innerlich: Der Rheindamm beginnt mich zu hypnotisieren. Seit Stunden starre ich auf den Boden, bis sich der Asphalt allmählich rückwärts bewegt und die Grünstreifen rechts und links im Augenwinkel nach vorne fliegen. Schwindelgefühl, Vertigo. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen habe.
Zwei, drei Kilometer vom Fluss entfernt befindet sich Seltz, eine morbide Kleinstadt aus grauen Wohnhäusern mit bröckelndem Putz und sentimental glimmenden Straßenlaternen. Der Rhein ist hier leicht zu überqueren, und das Dorf ist seit Jahrhunderten daran gewöhnt, immer mal wieder überrannt zu werden. Erst kamen die Kelten, dann die Römer, die Merowinger, die Karolinger, die Staufer, der Napoleon-Clan und zweimal das Deutsche Reich. Wohl deshalb haben die Seltzer heute ihre Rollläden runtergelassen, und auch das Café de la Gare sieht nicht gerade einladend aus. Die Farbe der Außenwand scheint direkt aus dem düsteren Himmel über die grob verputzten Mauern geflossen zu sein, die Ranken über der
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