Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Umweltkatastrophen, die Kollision der Erde mit anderen Himmelskörpern und einen «atomaren Holocaust». Nur: Warum will Gott sein akribisch geformtes Lebenswerk unbedingt wieder zerstören? Ich meine, er hat immerhin sechs volle Tage daran gearbeitet. «Das System» sei der Teufel, hetzt der Redner, «das Böse» nehme überhand, und in seinem Schlussplädoyer wird er endlich konkret: «Die gottlosen Sünden sind der Grund, warum es später ist, als wir denken: Ehebruch, Hurerei, Homosexualität.»
Pünktchen fragt, ob ich nach der Veranstaltung eine kostenlose Bibelbesprechung möchte. Ich blicke auf meine Uhr: Es ist schon viel später, als ich dachte.
Fast reumütig kehre ich in die Arme der katholischen Kirche zurück. An allen drei Beichtstühlen im kunsthistorisch bedeutsamen Dom zu Speyer brennt ein modernes rotes Ampellämpchen und sagt: Bitte nicht stören, hier wird einem armen Sünder gerade Absolution erteilt. An eine Säule gelehnt, warte ich, bis sich der erste Stuhl langsam und knarzend öffnet. Eine Frau schlüpft heraus, sieht sich um, eilt ins Freie, und es dauert noch etwa eine Minute, dann erlischt das Licht. Soll ich es wirklich wagen? Ich zögere, und ein anderer Sünder kommt mir zuvor. Erst als der Mann den sakralen Schrank nach zehn Minuten gebückt verlässt, traue ich mich hinein und bin irritiert: kein Sitz, keine Bank, kein Kissen.
«Eigentlich solltest du dich jetzt hinknien, mein Sohn», spricht eine vertraute Stimme.
«Herr Bender, sind Sie’s?»
Er ist es. Durch das Beichtfenster kann ich den Pfarrer erahnen, der Schatten des fein geschnitzten Gitters liegt in seinem Gesicht. Ob der Hund es sich auf seinen Füßen bequem gemacht hat, mag ich allerdings nicht beurteilen. Die Szenerie erinnert mich an den letzten Teil aus Mario Puzos «Der Pate», in dem der schwerkranke Michael Corleone auf Kardinal Lamberto trifft. «Manchmal überwältigt einen das Bedürfnis, zu beichten», sagt dort der Kardinal. «Was soll das für einen Sinn haben, zu beichten, wenn man nichts bereut?», antwortet der Mafia-Boss, und unter Tränen gesteht er dann doch: «Ich habe meine Frau betrogen, ich habe Menschen getötet, ich ließ meinen Bruder umbringen.» Und wovon soll ich dem Pfarrer erzählen? Von einer eingeschmissenen Glasscheibe im Kindergarten? Von gefälschten Gröning-Kugeln? Davon, dass ich im Suff einen Cola-Automaten geheiratet habe?
«Ich habe dreimal gekifft, mache manchmal böse Witze über die Kirche, gestern bin ich auf das Grab Heinrichs IV. geklettert. Aber meine größte Sünde ist wohl, dass ich kein Katholik bin und trotzdem die Beichte ablege.»
Herr Bender hält den Blick gesenkt. Er schmunzelt nicht. Nein, nicht mal im Ansatz.
«Das sind keine Sünden, mein Sohn. Weshalb bist du wirklich zu mir gekommen?»
Nun ergeht es mir ganz genau wie Michael Corleone – das Bedürfnis zu beichten überwältigt mich. Ich verliere die Kontrolle. Die Sünden, die ich wirklich bereue, fließen plötzlich aus meinem Herzen, und ich kann sie nicht mehr aufhalten. Ich erzähle dem Pfarrer, wie auch ich Menschen belogen, betrogen und tief in ihrem Innern verletzt habe. Wie ich alles und jeden kritisiere und nicht gut zu mir selbst bin. Wie ich hadere, mich quäle und andere mit meinem unfassbaren Ehrgeiz unter Druck setze, wie hilflos ich manchmal Ruhe suche, wie sehr es in meinem Kopf dröhnt und wie schlecht ich jede Nacht schlafe. Und so bewege ich mich auf dem schmalen Grat, an dem die Contenance endet und die Rührung beginnt. Der Pfarrer schweigt für eine Minute, dann bietet er an, einen Segen für mich zu sprechen – ich lehne nicht ab.
«So sage ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Gott segne deinen Weg – aus der Enge in die Weite, aus der Kleinlichkeit ins Wesentliche, aus dem Zwang in die Freiheit.»
«Glauben Sie, dass mich Heinrich IV. ein Stück begleitet?»
«Mein Sohn, da bin ich mir ganz sicher.»
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Kapitel 9
Sex Seltz
(Eine Grenzerfahrung)
O stermontag, Zeit zum Auferstehen. Meine Reise beginnt aufs Neue. Nur noch lächerliche eintausend Kilometer zu Fuß bis Canossa, einfach immer den Rhein entlang Richtung Frankreich, und ab die Post.
Dafür müsste ich den Rhein allerdings erst mal finden. Eigentlich soll der Gevatter genau hier hinterm Dom die Landschaft teilen, aber ich finde nur das Restaurant «Zum Anker», die Kindertagesstätte «Villa Kunterbunt» und die Tanzschule
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