Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
«Flamenco Sanchez Enrique». Ganz überrascht mich das nicht: Mein masochistischer Orientierungssinn führt mich oft und gern in die Wüste. Wenn ich mich ohne Karte zwischen links und rechts entscheiden muss, bin ich verloren. Mit Karte allerdings oft genug auch.
Nach einer geschlagenen halben Stunde irre ich entnervt durch ein Wohngebiet in Speyer-Ost und möchte meinen Frust an einem unschuldigen Jägerzaun auslassen, als ein knuffiges älteres Ehepaar auf mich aufmerksam wird. Die zwei sind sicher seit hundert Jahren verheiratet, und auch wenn sie seither zwanzig Zentimeter geschrumpft sein mögen, lieben sie sich bestimmt noch immer wie am ersten Tag. Süß, wie sich Omi und Opi feingemacht haben: er im Anzug mit Krawatte, sie in feiner Strickjacke und knielangem Faltenrock. «Ah, ein Pilger!», begrüßt mich die Frau und nimmt meine Hand. «Dürfen wir Ihnen helfen?» Dürfen sie natürlich gern, wie nett. Die beiden zeigen mir eine Abkürzung, ich bedanke mich herzlich und will gerade umdrehen, da drückt mir die Dame noch ein buntes Magazin in die Hand: «Hier, eine kleine Reiselektüre! Sie haben doch viel Zeit zum Nachdenken!» Mein Blick fällt ungläubig auf das Cover. Es ist die pastellfarbene April-Ausgabe des Wachturms. «Jesus Christus: Antworten auf unsere Fragen.»
Hätten mich die Zeugen Jehovas doch wenigstens in die richtige Richtung geschickt. Leider ist ihre «Abkürzung» am Ende der Straße gesperrt, ich muss umkehren und stehe irgendwann wieder vorm Speyerer Dom. Ein Fiasko, ich bin eine Stunde im Kreis gelaufen. Viel später, als ich dachte, erreiche ich schließlich den Rhein, und das Schicksal entschädigt mich mit einem surrealen Moment: Cabrios fahren über den Fluss. Knallrote, weiße und türkisfarbene Cadillacs treiben mit dem Strom, halb in den Fluten hängend, die Radkästen im Wasser. Als wollten sie vorm Ertrinken gerettet werden, winken und rufen mir die Passagiere zu, doch die Leute sind nicht in Lebensgefahr. Sie nehmen an einer Parade teil, einem österlichen Rheinballett mit Amphibienfahrzeugen. «Amphicars» nennen sich die schwimmenden Zweitürer aus den Sechzigern – halb Auto, halb Boot. Höchstgeschwindigkeit: 120 km/h auf dem Land, 12 km/h auf dem Wasser. Ahoi, Kameraden.
Mein Kollege Heinrich IV. verließ Speyer kurz vor Weihnachten, und der Winter soll außergewöhnlich streng gewesen sein. Angeblich war der Rhein von November bis April zugefroren, und der König konnte mit seiner Entourage direkt über das Eis stapfen. Chronist Lampert von Hersfeld schreibt, «dass vielerorts die Weinstöcke vollständig eingingen, weil die Wurzeln infolge der Kälte vertrockneten». Wie bedauerlich. «Wenn das Wasser im Rhein goldner Wein wär, ja dann möcht ich so gern ein Fischlein sein», sang meine Mutter auf ihren legendären Grünkohl-Partys in den Achtzigern. Natürlich habe ich den Schlager dankbar aufgeschnappt und in der Grundschule zum Besten gegeben. Was der Rhein war, wusste ich nicht so genau. Ich war mir nur sicher, dass es dort wunderschön sein muss.
Die Realität aber ist mehr als ernüchternd. Vielleicht beginnt das Armageddon der Zeugen Jehovas, vielleicht schickt auch Heinrich den Regen und den heftigen Wind, der jetzt aufkommt. Zum ersten Mal auf meiner Wanderung muss ich mit vollem Anti-Nass-Programm durch die Gegend stiefeln: Regenjacke, Regenhose, Regencape über dem Rucksack. Ich laufe über einen asphaltierten Fahrradweg, der auf dem Rheindamm via Straßburg bis nach Basel führt. Die Strecke könnte trostloser und einsamer nicht sein. Links verdeckt ein Wald aus toten, blattlosen Bäumen die Sicht auf den Fluss, in den Ästen hängen Hunderte Mistelbüsche wie dunkle, dämonische Lampions. Auf der rechten Seite erstrecken sich flache Pampa, Feuchtwiesen und verregnete Äcker – ich wähne mich schon zurück im wilden Norden. Auch nach drei Stunden kann ich immer noch den Speyerer Dom in der Ferne sehen. Das Gebirge aus Stein wirkt auf mich wie ein riesiger mahnender Zeigefinger, es macht mir Angst.
Natürlich unternimmt kein normaler Mensch bei diesem Aprilwetter einen Spaziergang am Rhein, und so verbringe ich zwei traurige, einsame und konfuse Tage auf dem Damm. Die Strecke führt mitten durch Kieswerke, Industriegebiete und Großbaustellen. Zwischen Germersheim und Wörth ist eine Brücke gesperrt, ich muss einen erheblichen Umweg laufen und lege eine Ben-Hur-Etappe von vierzig Kilometern auf die Straße. Manchmal fliegt ein Rennradfahrer an
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